„Es gibt nicht die eine Geschichte“

27.03.2018  Zeit online

Sondern es sind viele Geschichten, die zählen. Eine Antwort an die Kritiker des Berliner Humboldt Forums

Ein Gastbeitrag von Neil MacGregor

Die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie spricht 2009 auf der TED-Globalkonferenz von der „Gefahr der einen einzigen Geschichte“. Ausgehend von ihrer persönlichen Erfahrung warnt sie eindringlich vor der Macht, eine linearperspektivische Erzählung immer und immer zu wiederholen, bis sie zu einer unumstößlichen und exklusiven Wahrheit wird. Diese eine Geschichte formt ein unvollständiges Bild, das sich als ein vollumfängliches versteht. Und letztendlich bestimmt diese eine Geschichte das Sein derer, über die sie erzählt wird: „Sie beraubt Menschen ihrer Würde. Sie erschwert es uns, die Gleichheit aller Menschen zu erkennen.“ Als Beispiel beschreibt sie, wie irritierend und unangenehm es für sie war, von ihrer studentischen Mitbewohnerin aus den USA wohlwollend und gutmeinend als Afrikanerin gesehen zu werden. Sie „hatte eine einzige Vorstellung von Afrika: eine Geschichte der Katastrophen und des Elends. Diese eine einzige Geschichte ließ keinen Raum für mögliche Gefühlsregungen jenseits des Mitleids.“ Chimamanda Adichies Worte haben mich nachhaltig beeindruckt. Sie legen einen Wahrnehmungsmechanismus bloß, den wir alle viel zu schnell und selbstverständlich annehmen. Er ist effizient – in den unterschiedlichsten Bereichen, in denen es um die Macht der Deutungshoheit geht. Denn die „single story“ produziert gefährliche Stereotypen, und sie blendet die Komplexität aller menschlichen Handlungen aus.

In diesem Sinne müssen sich die Kritiker des Humboldt Forums fragen lassen, ob nicht auch hier die Gefahr besteht, ein eindimensionales Bild zu erzeugen – sowohl in Bezug auf das Humboldt Forum als Institution als auch auf die Kulturen, deren Objekte dort gezeigt werden. Dieses Bild ist nicht zwangsläufig falsch, aber eben nur ein Ausschnitt dessen, was man über dieses große Kulturprojekt erzählen könnte. Es wird behauptet, es fehle an kritischer Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe wie an Konzepten, und auch, dass es wohl besser sei, das Projekt „auf Eis zu legen“. So wurde unter anderem gefordert, keine Objekte aus den ethnologischen Sammlungen im Humboldt Forum zu zeigen, deren Herkunft nicht bereits zuvor von den Staatlichen Museen systematisch erforscht und dokumentiert ist. Das wäre, meines Erachtens, eine falsche Entscheidung. Denn ich glaube, dass die breite lokale und internationale Öffentlichkeit in diesen so komplizierten Prozess einer Beschäftigung mit den Objekten gar nicht früh genug eingebunden werden kann – Besucher der Sammlungen genauso wie die Communitys der Herkunftsgesellschaften oder wissenschaftliche Foren. Dank des Humboldt Forums kann die Erforschung der immateriellen wie materiellen Objekte in einer breiten Öffentlichkeit erfolgen und viele Perspektiven zusammentragen – dies ist die Chance. Diese kann und muss das Humboldt Forum nutzen. Hier kann es aktiv vorangehen und die Initiative ergreifen, wie beispielsweise auch in dieser Zeitung unlängst gefordert wurde.

Mein Argument basiert auf eigener Erfahrung in London. Im Umgang mit dem Material der National Gallery und des British Museums, welches potenziell eine zweifelhafte Erwerbsgeschichte in Zeiten des Holocausts hatte, entschieden sich die Trustees, das Kuratorium des Stiftungsrates, dazu, die Objekte und alle verfügbaren Informationen über ihre Provenienz online zugänglich zu machen. Die eingehenden Hinweise von Eingeweihten, Sachkennern und Erben schrieben die Objektbiografien fort. Und sie halfen dabei, Gegenstände in den Sammlungsbeständen zu identifizieren, die von den Nazis beschlagnahmt worden waren. In diesen Fällen konnten Gespräche über eventuelle Rückgaben sofort geführt werden.

Fragen der Objektaneignung im kolonialen Kontext sind komplizierter, da die Ereignisse weiter zurückliegen. Die Herkunftsdokumentation ist gewöhnlich fragmentarisch, und selbst bei den vielen gut aufgeklärten Fällen bleibt oftmals strittig, wer heute berechtigt ist, diejenigen rechtlich zu vertreten, die einst enteignet worden waren. In den Herkunftsländern finden sich grundverschiedene Ansichten über Fragen der Restitution. Der indische Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen würde die Kolonialerfahrung Indiens ganz anders beschreiben als der indische Schriftsteller, Diplomat und Politiker Shashi Tharoor. Meiner Ansicht nach ist es deshalb umso wichtiger, die fraglichen Gegenstände auszustellen und öffentlich – im Humboldt Forum – zu diskutieren. Das vielleicht nicht zu lösende Problem, wie man im Rahmen unterschiedlicher Rechtssysteme entscheiden soll, wird zentrales Thema der Debatten im Humboldt Forum sein müssen.

Eines der unzweifelhaft grausamsten Kapitel der britischen Kolonialgeschichte war die Eroberung und europäische Besiedlung Australiens, beginnend Ende des 18. Jahrhunderts. Eine Geschichte, die nicht nur kollektive Enteignung und kulturelle Zerstörung zur Folge hatte, sondern auch einen Völkermord. 2015 zeigte das British Museum in Zusammenarbeit mit dem National Museum in Canberra seinen Sammlungsbestand aus dem Gebiet der Aborigines – zuerst in London, anschließend in Canberra. Es war die erste Ausstellung in Großbritannien, die jener über 60.000 Jahre alten, lebendigen Kultur gewidmet war. Die Geschichten – sowohl die der langen kulturellen Tradition Australiens vor der kolonialen Besatzung als auch die der Kolonialzeit mit ihren Verheerungen und schließlich die der nachkolonialen Zeit bis heute – öffneten sich zu einem Weitwinkelpanorama.

Dank der erfahrenen Hauptkuratorin Gaye Sculthorpe, selbst Aborigine und Mitglied des National Native Title Tribunal, das sich für die Belange indigener Communitys einsetzt, sowie dank des Austausches mit den Communitys kamen unzählige Stimmen hinzu, die andere Geschichten erzählten. Aus erster Hand war zu erfahren, mit welchem tiefgründigen Wissen und mit welcher Ehrfurcht die Aborigines mit allen Ressourcen ihrer Umwelt umgegangen sind, wie lebendig ihre Geschichte in Gesang, Ritual und Malerei fortlebt, wie widerständig sich diese uralte Kultur behauptet hat und welch massive, traumatisierende Gefährdungen sie erleben musste im Zuge der britischen kolonialen Invasion. Das Resultat dieser Ausstellung war mehr als nur „eine einzige Geschichte der Katastrophe“, um mit Adichies Worten zu sprechen, sondern vielmehr eine Reihe von Erzählungen, auch von mutigem Widerstand, die neben einer großen Bewunderung für Kultur und Geschichte der Aborigines zweifellos Gefühle provozierten, die viel komplexer waren als Mitleid oder Schuld.

Die Ausstellung wurde zu einem Ort vieler stories. Gerade die scharfe Kritik von allen Seiten und die ganz unterschiedlichen Sichtweisen öffneten den Blick und legten zweifellos den Grund für ein tieferes Verständnis einer geteilten, komplexen Geschichte wie für kommende Kooperationen.

Wie können wir dafür Sorge tragen, dass die erzählte Geschichte nicht in einer Eindimensionalität gefangen bleibt, sondern ein lebendiges, vielstimmiges Gebilde entsteht? Hierin sehe ich eine der größten Herausforderungen des Humboldt Forums.

 

Quelle: Zeit online, 27.03.2018

 

 

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