„Weniger ist weniger“

25.01.2019  Die Welt

Von Rainer Haubrich

In vielen Städten werden monotone Rasterbauten kritisiert. Was diesen fehlt, zeigt sich an zwei aktuellen Beispielen in Berlin. Less is more, sagte einst der berühmte Architekt Mies van der Rohe. Doch meistens stimmt das einfach nicht.

Im Jahre 1909 wagte der Wiener Architekt Adolf Loos etwas damals Ungeheuerliches. Für ein Grundstück gegenüber der Hofburg entwarf er ein Geschäftshaus, bei dem die Fensteröffnungen keinerlei Dekor zeigten – wie ausgestanzt erschienen sie in der Fassade. Beim Rest des Gebäudes schwelgte er zwar in noblen Accessoires, der Sockel war mit Cippolino-Marmor und anderem Zierrat verkleidet, den Eingang betonten toskanische Säulen, auch besaß das Haus ein klassisches Kupferdach. Aber die Empörung im Publikum war groß: „Haus ohne Augenbrauen“ wurde es genannt, und angeblich mied der Kaiser die Ausfahrt zum Michaelerplatz, damit er das „scheußliche“ Haus nicht sehen musste. Um die Nacktheit zu mildern, hängte man Blumenkästen vor einige Fenster – so zeigt sich die Fassade bis heute.

Seit dem damaligen Skandal galt das „Loos-Haus“als Wegbereiter einer sachlichen Moderne. Und bald ging die nächste Generation von Architekten daran, noch schmuckloser, noch schlichter, noch moderner und also noch fortschrittlicher zu entwerfen: ohne klassische Säulen, ohne Zierrat, ohne Dach. In Italien berauschten sich Ende der 20er Jahre die Vertreter des Razionalismo an einer neuen Rigidität. Ihre steinernen Fassaden entstanden durch die schematische , dekorfreie Aneinanderreihung von identischen Fensterhöhlen, Balken und Stützen. Weil die Rationalisten so revolutionär waren, fanden sie, dass sich ihre knallharte Moderne besonders gut dazu eigne, den italienischen Faschismus in Architektur zu übersetzen. Das bekannteste Ensemble dieser Stilrichtung ist bis heute südlich von Rom zu besichtigen: die Satellitenstadt EUR.

In Deutschland war es ähnlich. Nicht wenige Vertreter des Bauhauses hatten eine Zeit lang gehofft, die neue Sachlichkeit könne auch hierzulande von den Faschisten übernommen werden. Noch 1934 beteiligten sch Walter Gropius, Ludwig Mies von der Rohe und mehrere Bauhaus-Mitglider an einer Propaganda-Ausstellung der Deutschen Arbeitsfront. Doch die Nazis entschieden sich für steinernen Neoklassizismus. Viele Bauhäusler emigrierten, und über die USA kam die Moderne nach dem Krieg als demokratisch geadelter International Style zurück nach Europa. Für Architekten, die etwas gelten wollten, gab es fortan nur noch das nackte Raster. „Less is more“ war das Credo Mies van der Rohes: Weniger ist mehr.

Aber nach Jahrzehnten der architektonischen Ausnüchterung dämmert es dem Publikum schon seit Längerem, dass „Less is More“ oft nicht stimmt. Oft ist nämlich weniger einfach nur weniger. Oder wie es der Vordenker der Postmoderne, Robert Venturi, ausdrückte: „Less is a Bore“ (weniger ist langweilig).

Zwei Tatsachen der Baugeschichte werden in diesem Zusammenhang oft übersehen. Zum einen gab es schon lange vor Adolf Loos Bauwerke mit „nackten“ Fenstern, etwa bei römischen Gebäuden, in der Romanik, bei Andrea Palladio Mitte des 16. Jahrhunderts und in der Revolutionsarchitektur um 1800. Aber sie waren früher nie das beherrschende Motiv.

Zum anderen ist das Raster keine Erfindung der Moderne, es taucht schon in der Antike auf. Allerdings wurde es über Jahrhunderte mit vielen Details architektonisch verfeinert und belebt. Es ist also nicht das Raster an sich, das Bauwerke abweisend erscheinen lässt. Die Basilica Iulia am Forum Romanum mit ihren Säulen und Rundbögen hatte 17 identische Achsen, das Kolosseum dreimal so viele. Die Alte Pinakothek in München hat 25 identische Achsen, Schinkels Würfel der Bauakademie hatte 32, die gotische Tuchhalle in Ypern hat 42. In den Obergeschossen der Alten Prokuratien am Marktplatz von Venedig sind es 58, am Circus in Bath schier endlose 105 identische Achsen, und an der Rue de Rivoli entlang des Louvre in Paris erstrecken sich die immer gleichen Fassaden über eine Länge von anderthalb Kilometern. Aber alle diese Rasterbauten waren und sind Attraktionen ihrer Stadt, weil sie über ein feines Dekor verfügen. Je näher man der Architektur kommt, desto mehr Nuancen gibt es zu entdecken. Die meisten Rasterfassaden der Moderne dagegen sind nackt  und öde, ohne sprechende Details, ohne Ornament, ohne einen ausgeprägten Dachabschluss.

Was auf dem Weg der Moderne in die Abstraktion und den Minimalismus verloren gegangen ist, lässt sich aktuell an zwei Bauwerken in Berlin ablesen: der modernen Spreeseite vom Humboldt-Forum/Berliner Schloss und dem neuen Eingangsgebäude zur Museumsinsel.

Beim Schloss hat der Italiener Franco Stella, ganz in der Tradition des Razionalismo, die rekonstruierten barocken Fassaden von Andreas Schlüter in seiner 23-achsigen Spreefront extrem abstrahierend fortgesetzt: mit drei Hauptgeschossen und einem Mezzaningeschoss, das er durch eine Halbierung der Fensterformate optisch absetzt. Die Öffnungen in seiner Fassade sind sogar deutlich größer als bei Schlüter. Er verwendet sorgfältig gefügte Kunststein-Elemente, die dem monumentalen Maßstab des Schlosses entsprechen. Das ist ohne Zweifel eine saubere, theoretisch gut begründete Architektur. Und im Sonnenlicht oder wenn das Gebäude abends von innen heraus leuchtet, wirkt das nicht unbedingt abweisend. Aber es zeigt sich: Maße und Proportionen allein, reduziert auf das architektonische Minimum, reichen eben nicht aus, um den Betrachter zu betören. Auch Schlüters barocke Fensterachsen sind alle nahezu identisch, aber sie werden durch fünf fulminante Portale abgesetzt, und auf jeder Etage wurden die Fensteröffnungen auf jeweils andere Weise dekorativ gefasst. Neben diesem feinen Spiel der Formen und Motive wirkt Stellas Fassade zur Spree dann eben doch nackt und grobschlächtig.

Filigraner kommen die Kolonnaden des Eingangsgebäudes von David Chipperfield neben dem neuen Museum daher.  Das ist Rationalismus auf höchstem Niveau. Aber dort, wo der Architekt die klassizistischen Säulenkolonnaden aus dem 19. Jahrhundert in Edelbeton fortsetzt, muss den Betrachter ein ähnliches Gefühl der Ernüchterung beschleichen wie bei Stellas Spreefront. Less is less. Eine Stütze ist eben keine Säule. Der nackte Pfeiler von Chipperfield verjüngt sich nicht nach oben wie das dorische Vorbild, ihn ziert keine Kannelur, er besitzt kein Kapitell und keinen Abakus, der zu einem abgestuften Gebälk überleitet – auf dem Betonpfeiler liegt einfach nur eine dicke Betonplatte. Chipperfields und Stellas Ergänzungen sehen neben dem historischen Vorbild aus wie Prothesen am menschlichen Körper: Sie erfüllen dieselbe Funktion, aber sie atmen nicht.

Doch was brauchen wir heute noch Details, Nuancen und Dekor, was brauchen wir noch Abschlussgesimse oder Dächer? Wir sind ja modern! Deshalb werden wir auch die nächsten Kästen ertragen müssen, die am Boulevard Unter den Linden geplant sind. Anstelle eines DDR-Plattenbaus gegenüber der russischen Botschaft entsteht ein brandneuer Plattenbau für den Deutschen Bundestag: 19 Achsen, von unten bis oben und von links nach rechts einheitlich durchgerastert, ein monumentales Urnenregal, ohne Staffelgeschoss, ohne Dach, einfach abrasiert. Und nebenan wird eine weitere Lücke gefüllt, mit der neuen polnischen Botschaft, 22 Achsen, alles gleich, unten, oben, links, rechts, kein Staffelgeschoss, kein Dach. Dagegen war Albert Speers Neue Reichskanzlei in der Voßstraße ein Wunder an Abwechslung.

 

Quelle: Die Welt, 25.01.2019

 

 

5 Kommentare zu “„Weniger ist weniger“

  1. Rainer Haubrichs Kritik an Stellas Ostfassade des Humboldt-Forums mag stichhaltig sein, der Autor blendet aber aus, dass eine historisch getreue Rekonstruktion keinerlei Chancen besessen hätte, von der Expertenkommission empfohlen zu werden. Das rekonstruierte Schloss stellt einen Kompromiss dar. Die Alternative wäre ein Neubau unter Verzicht der Barockfassaden gewesen – oder aber die Erhaltung des Palastes der Republik.

  2. Georg Schirmers

    Stimmt alles! Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß Stellas Spreefront nur hässlich ist! Ein Stilbruch und eine Beleidigung des Auges! Und diese sogenannten „Experten“ die dieses zu verantwortren haben, sind ganz einfach nur Ausdruck einer verqueren politischen Kaste. Ich nenne es mal so: Das ist die „Berlinokratie“, die alles will aber NICHTS zustande bringt!!

  3. Ja, genau: Dieser kompetente und inhaltlich präzise, gut begründete Artikel von Herrn Haurich trifft den Nagel auf den Kopf. Ich hatte immer versucht, Stellas Ostseite des Schlosses als Bescheidenheit gegenüber dem Meister Schlüter zu verteidigen. Ich hätte mir nur wenigstens an der Ostseite ein hervorgehobenes (durchaus modernes) Mittelportal gewünscht analog zur Westseite und den Portalen an beiden Längsfronten. Aber es stimmt. Der moderne Minimalismus wirkt öde. Schuld sind aber eigentlich nicht die Architekten, sondern die Bauherren, die das erlauben oder gar wünschen. Warten wir ab wie öde und leer der Schlossplatz „gestaltet“ wird. Noch wäre Zeit, sich für optische Reize zu entscheiden. Die vorhandenen Artfakte warten nur auf Rückführung. Leider sehen das Politiker und Baudezernenten der Stadt anders.

  4. Es ist richtig, nicht Stella einen Vorwurf zu machen. Als sein Entwurf von dem Expertengremium ausgewählt wurde, wußte man, was man bekam. Das verfuhr nach Karl Valentins Spruch: „Mögen haben wir schon gewollt, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“ Gegen den westlichen, bes. rotgrünen Ungeist und gegen die östliche Palast-Nostalgie, die sich die Kommunisten zunutze machten, war mehr nicht durchzusetzen. Es ist schon ein Wunder, daß sich so viel vom alten Schloß in die neue Planung gerettet hat, das ist u. a. Stellas Verdienst. Man kann heute an der Diskussion über das Schloßumfeld und über das „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ sehr schön verfolgen, wie die genannten Kräfte mit allen Mitteln versuchen, so wenig Geschichte wie möglich zurückzugewinnen, und wo es nicht anders geht, alles bis zur Häßlichkeit zu verfremden. Wir haben traditionsfeindliche und bildungsferne „Eliten“ in den entscheidenden Positionen, und deshalb will in diesem Land nichts wirklich gelingen. Schon die Wiedervereinigung wurde so mies wie möglich gemacht, der Kanzler der Einheit wahlweise als lächerlicher oder tumber Tor dargestellt, dem die Einheit in den Schoß gefallen sei. Beliebt ist es in den Medien, Genscher, Schmidt oder die aufständische „DDR“-Bevölkerung gegen ihn ins Feld zu führen, als ob nicht aus dem Zusammenspiel der Volkskräfte und dem mutiogen Zugreifen des Kanzlers die Einheit in Frieden und Freiheit erreicht worden sei. Wie stolz könnten wir Deutschen darauf sein, daß wir den Traum unserer Vorfahren von Einheit und Freiheit nicht aufgegeben, sondern verwirklicht haben! Doch ehe die Wähler keinen Elitenwechsel durchgesetzt haben, so daß die maßgebenden Kreise sich wieder zu ihrer Nation, zu deren Geschichte und zu deren Wert bekennen, wird das Elend nicht enden.

  5. Ich bin immer Noch der Meinung man hätte teile des Palastes in den Neubau integiren können und so der Wechselvollen Geschichte dieses Platzes Rechnung getragen aber Nein ! was wird gemacht es wird uns diese Schloss hingestellt der Millionen kostet anstatt das was da war zu benutzen und etwas nues aus den Alten zu schaffen! so schlecht war der Palast nicht bin selbst oft drin gewesen auch zu Festlichkeiten das was da geboten wurde ist ein für alle mal zerstört. OK der Neubau macht sich sieht gut aus und fügt sich das Stadtbild ein aber trotzdem ist es so wie es immer wahr der Hass auf System wird an Bauten ausgelassen. Naja ! Stellas Ostfassade ist für diese zeit gerade recht schlicht und einfach also nichts besonderes. da sah die Ostseite des Palates bei weitem besser aus. Ich hoffe das wenigstes die Blume der Treffpunkt im Palast in Original Größe wieder irgendwann auch dann in fertige schloss zurückkehrt. Hoffen kann an ja !!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert