„Im Würgegriff der Wokeness“

25.03.2021 – WELT

Kommen die Benin-Bronzen ins Humboldt-Forum im Berliner Schloss – oder werden sie an Nigeria zurückgegeben? Darüber mögen Fachleute streiten. Auf den Erfolg des Jahrhundertprojekts beim Publikum wird das keinen Einfluss haben.

Von Rainer Haubrich

Als der Deutsche Bundestag im Juli 2002 für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt-Forum votierte, gab es den Begriff „Wokeness“ noch nicht. Naiv, wie die Abgeordneten waren, stimmten zwei Drittel von ihnen einfach für eine Vision, die sie begeisterte: Äußerlich sollte der Neubau eine Rekonstruktion der 1950 von der DDR gesprengten Hohenzollernresidenz sein, bespielt werden sollte er vor allem von den außereuropäischen Kunstsammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin. Dieser Plan wurde damals allgemein als progressives Signal empfunden: Die deutsche Hauptstadt widmet das größte Gebäude in ihrer historischen Mitte der Kunst und den Kulturen Afrikas, Asiens, Amerikas und Polynesiens und bietet zugleich ein Forum für einen internationalen Dialog in Zeiten der Globalisierung.

Nach der damaligen Abstimmung hätten selbst die Anhänger der Idee nicht die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass der geplante Neubau mit den rekonstruierten Barockfassaden tatsächlich realisiert wird. Und schon gar nicht hätten sie sich vorstellen können, dass heute ausgerechnet die „woken“ Wortführer eines weltoffenen, interkulturellen Dialogs das gesamte Projekt infrage stellen, weil es in ihren Augen nichts anderes darstellt als Kolonialismus im Gewand des Absolutismus. Jüngstes Beispiel dafür ist die Debatte, ob die Staatlichen Museen die um 1900 geraubten Benin-Bronzen an Nigeria zurückgeben sollten.

Es ist erstaunlich, wie es den Kritikern in den Medien gelungen ist, diesen – ohne Zweifel wichtigen – Teilaspekt zum alles beherrschenden Thema rund um das Humboldt-Forum zu machen. Dabei gerät die Erfolgsbilanz dieses Jahrhundertprojekts völlig aus dem Blick. Das Bauwerk ist halbwegs im Zeit- und Kostenplan fertig geworden und ist bereit für das Publikum, das nur wegen der Corona-Pandemie noch nicht hineindarf. Vor unseren Augen steht eine Rekonstruktion auf höchstem handwerklichen und künstlerischen Niveau, finanziert vom Förderverein Wilhelm von Boddiens, der seine zugesagte Summe an privaten Spenden mit 105 Millionen Euro noch übertraf.

Zusammen mit der Museumsinsel ist jetzt ein Ensemble von sechs herausragenden Gebäuden komplett, in denen die Kunst fast aller Zeiten und Weltregionen versammelt sein wird. Das gibt es nirgendwo sonst. Anstatt dieses Wunderwerk nun mit Begeisterung zu vermarkten, halten die Macher des Humboldt-Forums rund um Generalintendant Hartmut Dorgerloh das Haus im Würgegriff der „Wokeness“. Sie schämen sich förmlich dafür, hinter Barockfassaden zu arbeiten, und versuchen gar, den Begriff „Berliner Schloss“ systematisch zu tilgen.

Die Fronten in der aktuellen Debatte sind nicht völlig neu. Von Anfang an stand das Projekt zwischen zwei kulturpolitischen Lagern, die sich jeweils nur zur Hälfte mit ihm identifizieren. Weite Teile des traditionsorientierten Bürgertums begrüßten die Rückkehr der Hohenzollernresidenz, hätten dort aber gern die Berliner Gemäldegalerie und ein Preußenmuseum gesehen. Die Multikulturalisten wiederum freuten sich über das Haus der Weltkulturen, lehnten aber die Rekonstruktion des feudalen Bauwerks ab.

Die „woke“ Avantgarde will aus dem Humboldt-Forum eine „Weltverbesserungsmaschine“ machen, wie es der frühere Direktor des Museums für Asiatische Kunst, der Niederländer Klaas Ruitenbeek, einmal formuliert hat. Er habe auch Kanzlerin Merkel öfter sagen hören, dass das Humboldt-Forum auf keinen Fall ein Völkerkundemuseum werden dürfe – und sich dann jedes Mal gefragt, was eigentlich gegen ein gutes, modernes Völkerkundemuseum zu sagen wäre?

Wer den Machern des Humboldt-Forums zuhört, weiß genau, welchen Lernerfolg sie bei den Besuchern des Hauses erzielen wollen: Jeder soll die „Gleichberechtigung aller Kulturen“ erkennen, mehr noch, ihre „Gleichwertigkeit“. Das Humboldt-Forum als Volkshochschule, in die man als „eurozentrischer, weißer Mann“ hineingeht und als politisch korrektes Weltwesen wieder herauskommt.

Warum überlässt man es nicht den Besuchern, was sie an Erkenntnissen aus dem Haus mitnehmen? Könnte es nicht sein, dass manche nach der Beschäftigung mit den Artefakten und Geschichten anderer Kulturen zum Ergebnis kommen, dass das Abendland trotz seiner Schwächen und kolonialen Sünden doch ziemlich großartig ist? Oder dass sie ein japanisches Bild der Edo-Zeit mehr begeistert als ein Gemälde von Rembrandt?

Über Raubkunst wie im Falle der Benin-Bronzen muss diskutiert werden. Man kann auch entscheiden, sie an die Ursprungsländer zurückzugeben. Aber niemand sollte suggerieren, dass deswegen das gesamte Projekt Humboldt-Forum gefährdet oder am Ende sei. Umstritten ist nur ein sehr kleiner Teil der 20.000 Exponate, die dort zu sehen sein werden. Und auch die beiden Veranstaltungssäle, in denen das multikulturelle Beiprogramm aus Vorträgen, Diskussionen und Filmen stattfinden wird, haben ihre Bedeutung, machen aber nur einen Bruchteil der Flächen im Humboldt-Forum aus.

Alle werden „das Schloss“ besuchen

Man muss nicht Museumswissenschaften studiert haben, um vorauszusagen, wie sich die Mehrheit der Besucher das Haus aneignen wird. Zuerst und vor allem werden sie „das Schloss“ besuchen. Sie werden die Fassaden bewundern, sie werden in den Schlüterhof eintreten und dieses Meisterwerk des norddeutschen Barock bestaunen. Sie werden hinaufsteigen auf die Dachterrasse neben der Kuppel und hinabsteigen in die erhaltenen historischen Keller. Sie werden eine Multimedia-Präsentation sehen über die wechselhafte Geschichte der Spreeinsel von der ersten Burg über das alte Schloss und den Palast der Republik bis zum neuen Schloss. Sie werden in den Museumsshops stöbern.

Nach einer Pause in einem der Restaurants oder Cafés werden einige noch in die Ausstellung über die Stadt Berlin und ihre internationalen Verflechtungen schauen. Eltern werden ihren Kindern die Südseeboote zeigen. Und eine eher kleine Zahl von Besuchern wird es bis hinauf zu den Kunstschätzen aus Afrika, Asien und Amerika schaffen – was man beklagen kann angesichts der herausragenden Qualität der Sammlungen, was aber die beste Museumspädagogik nicht grundlegend ändern wird.

In diesem Schloss der Weltkulturen kann man spielend einen ganzen Tag verbringen – und hat dann immer noch viel verpasst: das „Humboldt Lab“, das Tanzprojekt aus Bolivien, die Podiumsdiskussion über die Folgen des Klimawandels oder die Sonderausstellung mit zeitgenössischer Kunst aus Tansania. Das „Humboldt-Forum im Berliner Schloss“ wird eine Attraktion der Hauptstadt sein. Hoffentlich darf es bald seine Tore öffnen.

 

Quelle: WELT, 25.03.2021

 

 

3 Kommentare zu “„Im Würgegriff der Wokeness“

  1. Dieser Artikel ist sehr gut und wertvoll. Offen angesprochen wird die Vielseitigkeit der möglichen Aspekte und Bewertungen dieses Projektes und dabei die offene und notwendige Kritik an einseitigen ideologischen Festlegungen. Wir sollten bei diesem hervorragenden Beispiel einer gelungenen erstklassigen Teilrekonstruktion den Mut haben, das Ergebnis als „Berliner Schloss“ oder auch als Humboldt-Forum zu bezeichnen so wie der Bundestag im Reichstag zusammenkommt. Wir sollten über die Problematik der Raubkunstobjekte offen und kritisch reden, die Ernsthaftigkeit der Provenienzforschung verfolgen und uns gleichzeitig über die überwiegend rechtmäßig vorhandenen wunderbaren ethnologischen Sammlungen in Berlin freuen. Wir sollten die erfolgreiche Reparatur der Museumsinsel im Zusammenhang erkennen, statt frühere Zeitschichten arrogant zu verstecken oder auszulöschen und wir sollten das Ensemble mit der Rückkehr der noch vorhandenen Kunstwerke im Freiraum vollenden. Und schließlich sollten wir alle aufhören, mit ständigen Vorbehalten und Gewissensbissen alles kaputt zu diskutieren, was der Schönheit, der Harmonie, der Kunst, der Aufenthaltsqualität und auch der Repräsentation dieses bedeutsamen Lebensraumes in Berlin dient.

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