von Bau-Ing. Thomas Bauer und Arch. Jörg Lauterbach
Die Erasmuskapelle im Spreeflügel des historischen Berliner Schlosses des 16. Jahrhunderts zählt sowohl für das Berliner Schloss im Besonderen, als auch für die deutsche Entwicklung spätgotischer Architektur im Allgemeinen zu den absoluten Höhepunkten werkmeisterlicher Steinmetzkunst des 16. Jahrhunderts.
Der Bau wurde von Kurfürst Joachim II im Jahr 1540 in Auftrag gegeben, nachdem er am 16.September 1536 bei dem ihm befreundeten und familiär verbundenen (erste Gemahlin Joachims II. war Magdalene von Sachsen-Meißen) sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich zur Jagd in der Lochauer Heide weilte und das 1533-1535 in dem nahen Torgau erbaute Schloss Hartenfels mit dem Südflügel und großem Wendelstein sah.
Der Schlossflügel gefiel Kurfürst Joachim II offensichtlich so gut, dass er diesen als Vorbild für seinen neuen Schlossbau in Berlin wählte.
Wohl mit Einverständnis des sächsischen Kurfürsten fertigte Konrad Krebs, der seine Bestallung in sächsischen Diensten hatte, den Entwurf für das Neue Berliner Schloss. Wohl empfahl auch Krebs dem Kurfürsten Joachim II. für die Ausführung Caspar Theiss als ausführenden Baumeister (nach Albert Geyer-Die Geschichtes des Berliner Schlosses, Bdn. 1, 1936).
Diese zweite Erasmuskapelle im Schlossneubau Joachims II. wurde an die alte Stelle und in gleicher Ausdehnung, wie die erste Erasmuskapelle (zur Zeit Kurfürst Friedrich II.) eingebaut. In diesem Zuge wurde das spätgotische Schlingrippengewölbe eingebaut, welches 1540 als eines der letzten großen Schlingrippengewölbe auch einen konstruktiv und technischen Höhepunkt dieser Wölbtechnologie darstellt. Nachfolgend ist noch das 1556 im Residenzschloss Dresden errichtete Schlingrippengewölbe der dortigen Schlosskapelle entstanden, wofür die Berliner Erasmuskapelle in architektur-historischer Betrachtung sicher als Vorbild
anzusehen ist.
Die bauzeitliche Epoche der Schlingrippengewölbe begann Mitte des 15. Jahrhunderts im Bereich der Bauhütten von Wien und Steyr in Niederösterreich
sowie in den Süddeutschen Bauhütten. 1493 – 1502 wurde durch Benedikt Ried das große Schlingrippengewölbe des Wladislawsaales der Prager Burg (mit über 60 x 20 m der größte überwölbte Raum der Spätgotik) errichtet und steht bis heute als Vorbild für viele nachfolgende Schlingrippengewölbe. Die Figurationen verbreiteten und entwickelten sich dann über die Schüler Benedikt Rieds – Jacob Heilmann (St. Barbara Kuttenberg, Mariä Himmelfahrt Brüx, St. Annen Annaberg) und Wendel Rosskopf (Ratsaal Bunzlau, Rathaus Löwenberg, Peterstr.8 Görlitz) – auch nördlich Böhmens übers Erzgebirge nach Sachsen und Schlesien.
Aus dem Kreis der sächsischen Werkmeister und Steinmetzhütten gingen auch Konrad Krebs und Caspar Theiss mit Ihren Arbeiten, insbesondere am Schloss Hartenfels in Torgau , hervor. Schlingrippen spätgotischer Gewölbe sind zweifach gekrümmte Rippenwerke, d.h. sowohl im Grundriss folgen die Rippen einer kreisförmigen
Krümmung als auch im Aufriss bei der Bogenaustragung. Daher unterscheiden Sie sich von dem Verlauf einer zylindrischen Spirale bzw. einer Schraubenlinie in der Höhenentwicklung, wo die Spirale in der abgewickelten Darstellung eine lineare mathematische Funktion darstellt, hingegen der Schlingrippenverlauf zeigt auch in der abgewickelten Bogenaustragung eine bogenförmige, d.h. mathematisch degressive Funktion.
Direkt über diese Rippenwerke als räumliche Formvorgabe und bautemporäre Lastabtragung wurde die eigentliche Mauerwerkswölbung ausgeführt. Diese in der Zeit von Mitte des 15.Jahrhunderts bis zur 2.Hälfte des 16.Jahrhunderts vor allem im sächsisch-böhmisch und bayrisch-österreichischen Raum anzutreffende Wölbtechnologie, ist historisch aus nur 2 Ebenen heraus hergeleitet wurden und kann daher mit unserem heutigen dreidimensionalen Verständnis – einen Körper zu
definieren – kaum erklärt werden. Die Herleitung von Körpern und Raummodellen aus nur 2 Ebenen heraus ist u.a. von Albrecht Dürer mit seiner „Unterweysung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheit“, Nürnberg 1525, sowie Charles de Bouelles mit der „Geometrie practique“ , Paris 1555, umfassend dargelegt und überliefert wurden, so dass es auch heute möglich ist, diese Art der mathematisch geometrischen Herleitung bei der handwerklichen Ausführung von Schlingrippengewölben
nachzuvollziehen und im Bereich von historischen Rekonstruktionen auch nachzuahmen.
Seit 2009 arbeiten die Autoren Bau-Ingenieur Thomas Bauer und Architekt Jörg Lauterbach an der Werkplanung des Rippenwerkes und der Ausführung der Rekonstruktion des Schlingrippengewölbes von 1556 im Residenzschloss Dresden. Von 2010 bis 2012 haben Bauer-Lauterbach Studien an über 25 noch erhaltenen Schlingrippengewölben durchgeführt. Es sind die Schlingrippen der Gewölbe Erasmuskapelle Berlin, Rotbergkapelle Basler Münster, Landhauskapelle Wien, Eleemosynariuskapelle Banska Bystrica, Ratssaal Bunzlau, Rathaus Löwenberg. Diese wurden teilweise vermessen sowie am 3 D Computermodell (CATIA)
körpermodelliert und nachkonstruiert, mit dem Ziel, Grundlagen für eine mögliche Rekonstruktion des Schlingrippengewölbes der Erasmuskapelle
im Berliner Schloss zu erarbeiten. Diese 3jährige Studie wurde mit dem traditionellen Fertigen von 2 Modellrippen der Erasmuskapelle in Sandstein, d.h. aus nur zwei Bögen in Orthogonalprojektion und alternativ über Abwicklung der Bogenaustragung am Werkstein gerissen und händisch am Stein ausgearbeitet. An Hand dieser dokumentierten Steinschnittfolge konnten die historischen werkmeisterlichen Arbeitsschritte der 2-fach gekrümmten Rippenwerke auch praktisch nachgewiesen
werden und eine mögliche Rekonstruktion der Schlingrippen für die Wölbung der Erasmuskapelle belegt werden.
Vor allem aber die Nachkonstruktion der Figuration des Schlingrippengewölbes der Berliner Erasmuskapelle stellte die Autoren lange Zeit vor fast unlösbare Fragestellungen. Erst eine intensive Auswertung des bei Albert Geyer 1936 (Geschichte des Berliner Schlosses, Bdn. 1) veröffentlichten maßstäblichen Grundrisses der zweiten Erasmuskapelle mit Stützenstellung und Wandbezügen sowie der im Bildarchiv der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten befindlichen maßstäblichen Nachzeichnung von Matheis (um 1930) der Schinkelschen Bibliotheksmöblierung mit Höhenbezügen der Wölbung in der Erasmuskapelle ermöglichte eine den proportionalen Entwurfsprinzipien spätgotischer Werkmeister folgende Nachkonstruktion der Berliner Figuration. Verbunden mit der im Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie befindlichen Fotodokumentation der Ruine des Berliner Schlosses vor der Sprengung 1951, die zur Erasmuskapelle im Bereich
Apsis noch unzerstörte Rippenwerke im Detail zeigte, konnten die werkmeisterlichen Spitzenleistungen von Rippenknoten und den sogenannten Luftrippen an den Kämpferbereichen der Stützen im Emporenraum detailgetreu und auf gesicherten Befunden basierend nachkonstruiert werden.
Das Schlingrippengewölbe der Erasmuskapelle gliedert sich in 3 Raumbereiche, dem Kapellenraum, der Apsis (am Kapellenraum Richtung Spree) und dem Emporenraum (vom Kapellenraum Richtung Schlosshof). Diese 3 Raumbereiche sind jeweils durch starke Mauerwerkswände voneinander getrennt und mit großen, konstruktiv bedingten, Bögen mit raumgroßen Öffnungen miteinander verbunden. Der Kapellenraum zeigt in der Figuration der Grundebene 5 aneinandergereihte Kreisfiguren in Längsrichtung und dem Grunde nach 3 Kreisfiguren in Querrichtung. Und diese aneinandergereihten Kreisfiguren sind durch – jeweils um einen halben Kreis versetzt – mit einer zweiten Reihe aneinander liegender Kreisfiguren durchdrungen, so dass die bei Figurationen aus gleichen Kreisen bekannte Ornamentik mit Blütenblättern
und Rauten erscheint. Da die in Längsrichtung außenliegenden Raumstreifen etwas größer sind, als die Halbkreise der Figuren, wurden die indiesem Bereich liegenden Blütenblätter verlängert und axial bis zum Wandschnitt gedreht. Die Schlingrippenfiguration des Emporenbereiches ist in 6 Joche gegliedert – 3 Joche in Längsrichtung und 2 Joche in Querrichtung. An den 2 mittigen Jochgrenzpunkten stehen 2 Sandsteinsäulen, welche sicher auch der Grund für diese Jochaufteilung sind, da
derart hohe Säulen natürlich am Säulenkopf zur Stabilität konstruktiv eingebunden werden mussten. Dazu sind die in beiden Achsrichtungen auf Säulenkopfhöhe ausgebildeten Bögen ausgeführt wurden, die die Säulen in Längs- wie auch Querrichtung mit den Außenwänden konstruktiv verbinden. Da die Joche in Längs- und Querrichtung voneinander abwichen, hat der Werkmeister hier die Jochgrenzen übereinander geschoben, wodurch die in dieser Art einmaligen Luftrippen entstanden,
die ein Höhepunkt spätgotischer Wölbkunst sind.
Bei den Planungen zur zukünftigen Gestaltung der Innenräume des Berliner Schlosses-Humboldtforum sollten daher durchaus auch Überlegungen zur Rekonstruktion des Schlingrippengewölbes in der ehemaligen Erasmuskapelle mit in die Diskussion einbezogen werden, da aus handwerklicher Sicht sowie den Befunden zur historischen Form ein Wiederaufbau durchaus möglich ist. Zumindestens stimmt es hoffnungsvoll, dass die Planung von Franco Stella Architekten die historischen Raummaße wieder aufnimmt, so dass auch künftigen Generationen die Möglichkeit nicht verbaut wird, jederzeit dieses einzigartige Beispiel spätgotischer Wölbkunst zu rekonstruieren.
Ich würde die Rekonstruktion der baugeschichtlich so hoch interessanten Ersasmus-Kapelle auf´s Äußerste begrüßen. An hand von Fotos hat mich insbeondere das Gewölbe immer wieder fasziniert.Offenbar wäre eine Rekonstrruktion am historischen Standort möglich. Im heutigen Humboldtforum wurde dankenswerterweise genügend Platz für die Wiedererrichtung freigehalten.