Über kein Kulturvorhaben in Deutschland wurde länger und heftiger gestritten als über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldtforum. Doch das Projekt kommt voran. Ende 2014 soll schon der komplette Rohbau stehen.
von Rainer Haubrich
Bei der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt-Forum am 12. Juni 2013 stand am Rande der Festgesellschaft ein kleiner, unscheinbarer Herr von 82 Jahren, der einer der glücklichsten Menschen des Tages gewesen sein dürfte: Goerd Peschken, der Doyen der Schlossforschung. Man könnte den Bauhistoriker mit den spärlichen weißen Haaren auch den Moses des Schlossprojektes nennen. Denn schon vor Urzeiten, in den 70er-Jahren, als die Menschen in der geteilten Stadt besonders ekstatisch um das goldene Kalb der modernen Architektur tanzten und kein Hahn nach dem 1950 gesprengten Berliner Schloss krähte, beschäftigte sich Peschken mit der Geschichte, den alten Plänen und historischen Fotografien dieses bedeutendsten Barockbauwerks Norddeutschlands.
Und was Moses seine Zehn Gebote waren, das war Goerd Peschken sein Buch „Das Berliner Schloss“, das er 1982 publizierte. Mit über 500 Seiten sowie mehr als 400 Abbildungen war es ein Grundlagenwerk – und ein Klassiker ist es bis heute. Sein unausgesprochenes erstes Gebot lautete: Du sollst das Berliner Schloss nicht vergessen. Und das unausgesprochene zweite: Du sollst es irgendwann wieder aufbauen. Aber daran war natürlich nicht im Traum zu denken im Jahr 1982 im geteilten Berlin, dessen historisches Herz die Kommunisten herausgerissen und durch einen riesigen, öden Aufmarschplatz ersetzt hatten, gerahmt von Staatsbauten wie dem Palast der Republik. Und nun, mehr als 30 Jahre später, stand Goerd Peschken bei Kaiserwetter in der schon ausgehobenen Baugrube neben den wenigen erhaltenen Fundamenten der Hohenzollernresidenz und wurde Zeuge, wie der ewig lange diskutierte und mehrmals verschobene Wiederaufbau des Berliner Schlosses tatsächlich offiziell begonnen wurde. Er verfolgte beglückt, wie im Grundstein die Baupläne, ein Exemplar der Tageszeitung „Die Welt“ und Euromünzen versenkt wurden und wie Bundespräsident Joachim Gauck warme Worte sprach und den Hammer schwang. Peschken hatte mehr Glück gehabt als Moses: Während der biblische Prophet das Gelobte Land nur aus der Ferne gesehen haben soll, stand der alte Schlossforscher nun mittendrin. Und wenn alles gut geht, könnte Peschken den fertigen Bau noch erleben, vielleicht erfüllt sich sogar ein Traum, den er vor Jahren in einem Interview beschrieb: „im Schlüterhof Tanzboden auslegen und ein rauschendes Fest feiern“.
Es grenzt an ein Wunder, dass das Berliner Schloss ins Stadtbild der Hauptstadt zurückkehrt. Denn das Bauwerk war ja bis zum Fall der Mauer aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Als sich die ersten Stimmen regten, die für einen Wiederaufbau der Hohenzollernresidenz plädierten, mussten die Bürger erst einmal nachlesen und nachschauen, was genau das eigentlich war, dieses Berliner Schloss. Fachleute belehrten das Publikum, dass aus der Idee nichts werden könne. Es fänden sich fast keine Fragmente mehr, und das Bauwerk sei kaum dokumentiert, hieß es. Ein Wiederaufbau lasse sich nicht bezahlen, und selbst wenn, fänden sich heute keine Handwerker mehr mit den erforderlichen Kenntnissen.
Aber je mehr die Berliner vom früheren Schloss hörten und sahen, desto größer wurde ihre Zuneigung zu dem gewaltigen Komplex. Aus einem kleinen Kreis engagierter Kunstfreunde wurde eine wachsende Bewegung von interessierten Bürgern, die die Geschichte ihrer Stadt neu entdeckten. Es wurden historische Messbilder und alte Aufmaßpläne gefunden, es wurde nach Überresten geforscht und Aufklärung betrieben über all das, was dieses Schloss einst ausmachte, als Kunstwerk und als herausragendes Denkmal preußischer und deutscher Geschichte. Und dann entstand im Sommer 1993 dank Wilhelm von Boddien vor aller Augen jene Fata Morgana, die den Stimmungsumschwung zugunsten des Wiederaufbaus einleitete: die Attrappe der Barockfassaden, in Originalgröße. Die Idee dazu hatte Goerd Peschken.
Doch damit war noch nichts entschieden. Zahlreiche Architekten veröffentlichten Alternativentwürfe für einen Neubau, und der Streit darüber wuchs sich zu einer der längsten und größten architektonischen wie kulturpolitischen Debatten des Landes aus. Schließlich tagte eine Internationale Expertenkommission, die den äußerlichen Wiederaufbau des Schlosses empfahl, mit den drei barocken Fassaden und dem Schlüterhof, als Haus der Weltkulturen, der Künste und Wissenschaften unter dem Namen Humboldt-Forum. Und im Sommer 2002 stimmte der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit für diese Empfehlung.
Es geht hier keineswegs um eine Extravaganz der Hauptstadt: Der Wiederaufbau folgt einer großen Zeitströmung. 2005 wurde in Dresden die wieder aufgebaute Frauenkirche geweiht, und in ihrem Schatten wachsen seitdem die im Zweiten Weltkrieg ebenfalls zerstörten Altstadtquartiere wieder heran. Seit 2007 steht in Braunschweig die äußere Gestalt des niedergelegten Welfenschlosses wieder, in Potsdam wird das abgetragene Stadtschloss als Landtag Brandenburgs wieder eröffnet, wenige Hundert Meter davon entfernt soll die einst gesprengte Garnisonkirche folgen. In Frankfurt am Main wurde das abgerissene Palais von Thurn und Taxis neu aufgebaut, Teile der zerstörten Altstadt erstehen ebenfalls wieder. Und in Hannover wurde das zerstörte Schloss Herrenhausen äußerlich rekonstruiert.
Was das Berliner Projekt von den anderen unterscheidet, sind nicht nur die Dimensionen und das enorme Volumen an barocker Plastik, die von Hand angefertigt werden muss. Es ist vor allem die neue Bestimmung des Gebäudes. In der Tradition des Bildungsideals und der Neugier auf die Welt, für die die Gebrüder Humboldt stehen, soll hier ein Museum ganz neuer Art und ein Veranstaltungszentrum entstehen – mit den Berliner Sammlungen außereuropäischer Kunst als Kernstück.
Diese Doppelgesichtigkeit des Projekts führt dazu, dass es zwischen den Fronten zweier kulturpolitischer Lager steht, die sich jeweils nur zur Hälfte damit identifizieren können. Weite Teile des traditionsorientierten Bürgertums ersehnen die prächtige Hohenzollernresidenz und hätten dort gern ein Preußenmuseum und die Berliner Gemäldegalerie untergebracht. Der Gedanke, dass hier künftig „Inka-Töpfe“ oder Südsee-Einbäume gleichberechtigt Nofretete oder Caspar David Friedrich auf der Museumsinsel gegenübergestellt werden sollen, hat für dieses Milieu wenig Reiz. Die Multikulti-Avantgarde wiederum fiebert dem Ort der Weltkulturen entgegen, lehnt aber die Rekonstruktion des feudalen Bauwerks ab.
Dabei ist es gerade die Mischung, die das Projekt so einzigartig macht: Einerseits kehrt mit dem Schloss von Andreas Schlüter ein Bauwerk von europäischem Rang zurück; andererseits wird die Museumsinsel erweitert um Meisterwerke aus China, Indien, Japan, Afrika, Amerika und Polynesien. Künftig wird dann in sechs herausragenden Gebäuden die Kunst fast aller Zeiten und Weltregionen zu sehen sein.
Die Verbindung von historischer Gebäudehülle und modernem Inhalt hat in Berlin schon einmal gut funktioniert: beim Umbau des Reichstagsgebäudes. Als dunkler Kasten stand der verrußte wilhelminische Bau Jahrzehnte im Schatten der Mauer, bis Christo ihn wachküsste, die Sandsteinfassaden geputzt wurden und Norman Foster ein modernes Innenleben mit begehbarer Kuppel schuf. Das Haus, in dem einst die erste deutsche Republik scheiterte, ist heute ein Symbol der modernen deutschen Demokratie.
Beim ebenfalls als „dunklen Kasten“ geschmähten Berliner Schloss wird es ähnlich sein: Es kehrt in hellem Sandstein und Putz zurück, mit einem zeitgenössischen Inneren. Und auch hier werden die Besucher auf dem Dach im Schatten der Kuppel einen Kaffee trinken können. Von diesem Ort aus wurde einst Preußen und zuletzt das „Ruhelose Reich“ der Deutschen regiert. In Zukunft sucht hier ein in sich ruhendes, der Zukunft zugewandtes Deutschland den Austausch mit der ganzen Welt.
Bis dahin werden noch mindestens sechs Jahre ins Land gehen. Nach jetziger Planung soll das Gebäude 2018 fertiggestellt sein, um es dann ein Jahr lang einzurichten und zu erproben. Die Eröffnung könnte 2019 gefeiert werden. Seit Beginn der Vorarbeiten auf dem Grundstück vor anderthalb Jahren ist das Vorhaben von größeren Problemen verschont geblieben. Anders als viele Großprojekte in Deutschland liegt das Humboldt-Forum im Zeitund Kostenrahmen. Bleibt es dabei, müsste Ende 2014 der komplette Rohbau vor unseren Augen stehen. Dann wird auch Goerd Peschken, der das historische Bauwerk nie selbst gesehen hat, den Betonkubus umrunden und überprüfen, ob sich die häufig beschriebene, wohltuende Wirkung des dominanten Schlosskörpers im Stadtraum wieder einstellt. Auch sein Mentor erzählte ihm einst von dieser Wirkung – Professor Hans Junecke aus Halle. Der hatte 1950 in Briefen an die DDR-Führung gegen den drohenden Abriss des Schlosses protestiert und wurde daraufhin so drangsaliert, dass er in den Westen ging. Mit ihm sei er kurz vor dessen Tod im Sommer 1993 an der Schlosskulisse gewesen, erinnert sich Peschken. Und Junecke habe gesagt: „Wie das da stand – das war sehr gut.“
Rainer Haubrich ist stellvertretender Leiter der Meinungsseite der Zeitung „Die Welt“.
Wir entnahmen diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag vom 2. Januar 2013.
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