„Wohnungen statt Schloss“

08.06.2016   Junge Welt

Berliner Bündnis fordert Wiederaufbau einer kommunalen Infrastruktur

Von Claudia Wrobel

Drei Monate vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus haben die Parteien die soziale Frage wiederentdeckt. Eine besondere Rolle spielt dabei bezahlbarer Wohnraum. Denn die Mieten sind in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. Mittlerweile müssen Berliner im Durchschnitt 21 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Nettokaltmiete aufwenden (siehe jW vom 3.6.).

Um das Thema nicht allein den Parteien zu überlassen, wird das Bündnis »Berlin für alle« am heutigen Mittwoch eine Kampagne starten. Im Mittelpunkt der ersten Aktion steht der Neubau des Berliner Stadtschlosses, das auf dem Gelände errichtet wird, auf dem früher der Palast der Republik stand. Das Land Berlin trägt 32 Millionen Euro der Kosten des Prunkbaus, die sich voraussichtlich auf insgesamt mehr als 500 Millionen belaufen werden.

Das Bündnis »Berlin für alle« wird an der Baustelle darauf hinweisen, dass in der Hauptstadt jährlich 20.000 Wohnungen statt wie bisher 9.000 neu errichtet werden müssten. Während sich die Situation der Mieter stetig verschärft, feiert sich die Baubranche am heutigen »Tag der Immobilienwirtschaft« selbst. Auf dem Programm der Festveranstaltung in Berlin mit viel Politprominenz stehen Vorträge und Diskussionen zu Themen wie »Weniger Staat für mehr Urbanität«.

Dem wollen die Aktivisten mit einem Sit-in etwas entgegensetzen: Mieter sind eingeladen, Lampen, Tische und anderes Inventar mitzubringen: »Wenn wir nun auf der Straße schlafen müssen, während ein Luxusprojekt nach dem anderen hochgezogen wird, müssen wir die vorhandenen Räume eben zwischennutzen«, heißt es im Bündnisaufruf. Wichtig sei der Initiative auch eine klare Positionierung gegen Rassismus, erläuterte Ralph Neumann von »Berlin für alle« im Gespräch mit jW: »Berlin hat keine Flüchtlingskrise. Die Stadt wird kaputtgespart.« Der erhöhte Bedarf an Quartieren wegen der gestiegenen Zahl von Asylsuchenden wäre für eine Metropole dieser Größe leicht verkraftbar, wenn die Politik den sozialen Wohnungsbau im gleichen Umfang wie in den 1990er Jahren fortgesetzt hätte, meint er. Öffentlicher Wohnungsbau ermögliche es außerdem, den Zuzug, die Verteilung auf die Bezirke und die Höhe der Mieten direkt zu steuern. Dieses Instrument habe der Senat in den vergangenen Jahrzehnten aus der Hand gegeben. Nicht einmal mehr 300.000 Wohnungen befinden sich im Bestand der städtischen Wohnungsbaugesellschaften. Mindestens 100.000 Einheiten wurden seit 1998 privatisiert, der größte Teil davon 2004 unter einem Senat aus SPD und PDS.

Das Bündnis will unterdessen auch Gesundheit, Bildung und alle anderen Bestandteile der Daseinsvorsorge thematisieren. »In Berlin ist es nicht mal mehr möglich, seiner gesetzlichen Pflicht nachzukommen und seinen Personalausweis zu verlängern«, so Neumann. Mittlerweile wartet man in der Hauptstadt drei Monate auf einen Termin beim Einwohnermeldeamt. »Wir brauchen einen Wiederaufbau der Infrastruktur, die im Neoliberalismus zerstört wurde«, fordert Ralph Neumann.

 

Quelle: Junge Welt, 08.06.2016

 

 

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