26.11.2015 Berliner Zeitung
MOLKENMARKT, MÜHLENDAMM, ALEXANDERPLATZ
Berlin hat seine historische Altstadt immer verachtet und eifrig zerstört. Jetzt steht eine neue Wende an. Ein historischer Rückblick auf einen Teil der Stadt, der nach der Wende bis heute eher stiefmütterlich behandelt wurde.
Von Maritta Tkalec
In Städten, die deutsche Reisende gerne besuchen, halten sie zuerst Ausschau nach dem Wegweiser „Altstadt“ beziehungsweise „historisches Zentrum“. Wie schön ist doch so ein Centro storico. Pittoreske Häuser, malerische Gassen, Palazzi, Torbögen, romantische Winkel, gastliche Plätze. Berlin braucht solche Wegweiser nicht. Es hat keine Altstadt. Fragt man Berlin-Bewohner, wo sie das historische Zentrum vermuten, platzieren es viele irgendwo am Brandenburger Tor oder Unter den Linden. Auch auf Charlottenburg wurde schon getippt. Wahrscheinlich, weil da ein Schloss steht. Der Raum zwischen Fernsehturm, Rotem Rathaus und der Marx-Engels-Wiese hat ja tatsächlich keine Ähnlichkeit mit einer historischen Altstadt.
Noch ärger verhält es sich mit der Frage nach dem Gründungsort der Stadt. Irgendwas mit Cölln mag diesem und jenem noch einfallen. Aber Molkenmarkt und Mühlendamm? Diese laute, abweisende Zone, die man so schnell wie möglich wieder verlassen will, wenn man sie mal streift?
Andernorts heißt das „Wiege“
Aber genau dort hat alles begonnen: An der schmalsten und damit verkehrsgünstigsten Stelle des Warschau-Berliner Urstromtals wurde aus Hunderten Eichenpfählen zunächst eine Brücke errichtet, dann zum Mühlendamm verfüllt, der die Kaufleute- und Fischersiedlungen Berlin und Cölln miteinander verband. Der Damm staute die Spree, das Wasser trieb Korn-, Walk- und Schneidemühlen an. Molkenmarkt heißt Mühlenmarkt. Es war der älteste Platz Berlins und zentraler Teil des dicht bebauten Altstadtkerns. Keine Spur mehr davon. Nichts als Verkehrsknotengrauen.
Auch der erste Aufstieg der Stadt vom einfachen Brückenort zur bedeutenden Spreequerung hängt mit Mühlendamm und Molkenmarkt zusammen. Die askanischen Regionalfürsten hatten die alten slawischen Handelswege von Magdeburg nach Posen, der auch über Spandau und Köpenick führte, durch die Stadt geleitetet. Da kreuzten sich nun die Wege, auf denen Salz aus Halle kam, Hering von der Ostsee, Holz und Roggen nach Hamburg verschifft wurden. Siedler zogen zu: aus dem Harz, dem Rheinland, aus Westfalen und Flandern.
Die Nikolaikirche, das älteste erhaltene Bauwerk Berlins entstand um 1230. Zusammen mit dem Molkenmarkt bildet sie den Kern der Handels- und freien Hansestadt Berlin (1360 bis 1451). Sie breitete sich stetig Richtung Norden aus. Auf der gegenüberliegenden Spreeseite wuchs, deutlich langsamer, die Siedlung Cölln um die Petrikirche herum. Schon die Gründungszeit bringt also nicht einen Stadtkern hervor, sondern zwei. Zwei Kirchen, zwei Marktplätze, zwei Rathäuser.
Dann geschah 400 Jahre lang wenig. Der erste Stadtplan, gezeichnet um 1652 von Johann Gregor Memhardt, zeigt die Doppelstadt wie gehabt, bloß um den kurfürstlichen Herrschaftssitz auf der nördlichen Spreeinsel erweitert. Die Fläche, die dann schließlich von den Bollwerken und Gräben umschlossen wurde und auch die erste Ausdehnung nach dem Dreißigjährigen Krieg, Friedrichswerder, umfasste – das ist die Altstadt Berlins.
Hering von der Ostsee
Mit dem 1702 begonnenen barocken Ausbau der alten Hohenzollernresidenz zum Schloss erhielt der Stadtkern einen mächtigen Fixpunkt, doch zugleich setzte die Abwendung von der Altstadt ein. Schicksalsentscheidend wurde die Frage, welches die Prachtstraße werden sollte, die dem Schloss erst die rechte Wirkung verleihen konnte. Zunächst hatte nahe gelegen, die Königsstraße (entspricht etwa der heutigen Rathausstraße) auszubauen, vom Schloss in nordöstlicher Richtung. Die nächste Variante nahm die Breite Straße in den Blick – sie hätte die Verbindung Richtung Cölln betont. Das wären altstadtstärkende Varianten gewesen.
Doch es kam anders, alles lief schließlich Richtung Westen, und so ging es die nächsten Jahrhunderte fort. Unter den Linden wuchsen die Paläste, die Oper, Akademien der Künste und der Wissenschaften, Dorotheenstadt und Friedrichstadt. Die Altstadt verschwand hinter dem Schloss. In den Schatten.
Berlin stieg zwar allmählich zur Weltstadt auf, doch der historische Teil war nicht vorzeigbar, ja peinlich im Vergleich etwa zu Florenz oder Prag. Die Geringschätzung bewirkte immer neue Abrisswellen. Von den um 1840 im alten Stadtkern stehenden 1500 Gebäuden wurden bis 1970 sage und schreibe 1488 abgerissen. Auch von den Gebäuden, die in jener Zeitspanne errichtet wurden, durften wenige bleiben. Die Weimarer Republik träumte monumental. Das Dritte Reich brach energisch Bahn für Neues. Vieles sank im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche. Die Hauptstadt der zukunftszugewandten DDR machte sich frei vom Erbe, konnte selbst das Schloss nicht ertragen, brauchte Platz für ihre Moderne – wie der Westen seine brauchte. Hier Fernsehturm und Palast der Republik, dort Philharmonie.
Und überall Schneisen für den Verkehr: In den 1880er-Jahren wurde durch den Norden Alt-Berlins die Kaiser-Wilhelm-Straße gebrochen (heute in etwa am Verlauf der Karl-Liebknecht-Straße). Auf die alten Stadtbefestigungen wurden die Stadtbahngleise gelegt. Am heftigsten traf der Bau der Mühlendammbrücke aus Spannbeton die Altstadtstruktur. Sie bereitete den achtspurigen Durchbruch der Grunerstraße durch die südliche Altstadt in den 1960er-Jahren vor.
Rührendes Mittelalter-Feeling
An diesem Punkt stehen wir jetzt. Es gibt die alte Mitte nicht. Der Raum zwischen Rotem Rathaus und Marienkirche ist eine mühsam mit kaum gepflegten Grünanlagen kaschierte Ödnis, dekoriert mit mehr oder weniger liebenswerten Objekten wie Brunnen und Ehrenmalen. Über die Neugestaltung haben die Bürger monatelang debattiert, am Freitag wird das Ergebnis bekanntgegeben. Der zum 750. Gründungsjubiläum Berlins unternommene Versuch der DDR-Führung, im Nikolai-Viertel Mittelalter-Feeling per Plattenbau zu erschaffen, mutet rührend an. Als Vorbild kann das nicht dienen.
Doch die Stadt wird den Phantomschmerz nicht los. Sie hat sich nach dem Mauerfall zuerst auf den Westen des Ostens gestürzt: Friedrichstraße, Pariser Platz, Potsdamer Platz, Leipziger Platz. Alles schick.
Nun also ist die Alte Mitte dran, ein komplexes Gebiet, historisch wie eigentumsrechtlich und ästhetisch. Das Schloss steht inzwischen als mächtiger Baukörper da. Auch an ihm, vor allem am Nachbau der Barockfassade, arbeitete sich der seit fast 200 Jahren eingeübte Altstadthass ab. Überzeugende Alternativen hat es allerdings nicht gegeben. Aber die reine Existenz des Schlosses verlangt schon jetzt nach nächsten Schritten.
Quelle: Berliner Zeitung, 26.11. 2015