Die Welt 06.09.13
Berlin baut den Barockpalast als Humboldt-Forum wieder auf. Der gewaltige Kubus wird dem Zentrum Halt und Mitte zurückgeben. Und 2033 wird man sich nicht mehr vorstellen können, dass es je anders war.
Von Rainer Haubrich
Sind Menschen, die in schönen Städten leben, glücklicher? Man ist geneigt, das zu glauben – auch wenn es kaum Studien gibt, die diese Frage eindeutig beantworten könnten. Glück speist sich aus vielen Quellen, und die gebaute Umwelt ist nicht die wichtigste. Aber es dürfte für das Seelenleben eines Menschen doch einen Unterschied machen, ob er etwa in Hoyerswerda aufwächst oder in Lübeck, ob er in Wolfsburg lebt oder in Regensburg. Jeder kennt diese Momente beim Besuch einer fremden Stadt, in denen einem das Herz aufgeht beim Durchstreifen schöner Quartiere, beim Anblick gelungener Plätze und miteinander harmonierender Gebäude.
Die Vorahnung eines solchen Momentes lässt auch Besucher Berlins ihren Schritt verlangsamen, wenn sie die Allee Unter den Linden hinuntergehen, das Forum Fridericianum mit der Staatsoper passieren und schließlich, hinter Zeughaus und Schlossbrücke, den Lustgarten erreichen. Genauso geht es jenen Besuchern, die sich diesem Ort von der anderen Seite, vom Alexanderplatz her nähern, um sich auf dem Rasen des Lustgartens niederzulassen und die imposanten Architekturen des Alten Museums und des Berliner Doms auf sich wirken zu lassen. Auch der Laie wird empfinden, dass sich der Stadtraum an dieser Stelle auf eine besondere Weise architektonisch auflädt.
Dennoch will sich ein echtes Glücksgefühl nicht einstellen. Gar nicht so sehr wegen des zu groß geratenen wilhelminischen Berliner Doms. Es ist die gähnende Leere auf der vierten Platzseite des Lustgartens, die irritiert. Es ist diese Ödnis zwischen den beiden Spreearmen, die sich bis hinüber zum Staatsratsgebäude und zum Marstall erstreckt, es ist dieses sieben Fußballfelder große Nichts, um das die verbliebenen historischen Bauwerke beziehungslos herumstehen, das jeden Passanten ratlos zurücklässt. Dass hier im Herzen Berlins etwas fehlt, dürften auch jene empfinden, die die Geschichte des Ortes nicht kennen. Und mancher wird ahnen, dass hier einst ein gewaltiges Bauwerk gestanden haben muss. Es war das Berliner Schloss, ein Kubus von rund 200 Meter Länge und über 100 Meter Breite, mit dessen Bau Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen worden war. In seiner mehrfach erweiterten Form hatte es jahrhundertelang das historische Herz Berlins dominiert und zusammengehalten, bis es im Zweiten Weltkrieg schwer getroffen und 1950 von der DDR gesprengt wurde. Die baute an dieser Stelle den Palast der Republik, der wiederum 2006 abgerissen wurde.
Jetzt kreisen hier erneut die Baukräne: Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt- Forum hat begonnen, ein Ende der Ödnis ist in Sicht. Im Frühjahr wurde die Baugrube ausgehoben, im Juni legte der Bundespräsident den Grundstein, und inzwischen ist die gesamte Betonsohle gegossen. In der Südwestecke des Bauwerks, dort, wo die letzten erhaltenen historischen Fundamente des Schlosses in den Neubau integriert werden, hat man bereits die Erdgleiche erreicht.
Einen Eindruck von der stadtprägenden Wirkung dieses Bauwerks konnte erstmals bekommen, wer dieses Areal zwischen Frühjahr 1993 und Herbst 1994 besuchte: Damals stand hier eine Attrappe des Schlosses, in den einstigen Abmessungen und mit aufgemalten Barockfassaden. Die Präsenz dieser Simulation führte bei vielen Gegnern eines Wiederaufbaus zu einem Meinungsumschwung. Im Juli 2002 fand im Deutschen Bundestag die entscheidende Abstimmung statt: 384 von 589 Abgeordneten, gut 65 Prozent, quer durch die Fraktionen, folgten der Empfehlung einer Expertenkommission für einen Neubau mit den schlüterschen Fassaden.
Skeptiker fragen bis heute: Musste es hier unbedingt das Schloss sein? Es musste nicht. Mittlerweile ist ja fast vergessen, wie viele Ideen und Visionen während der fast 20 Jahre dauernden Debatte präsentiert wurden. Große Namen der internationalen Architekturszene wie Norman Foster zeichneten Entwürfe, renommierte deutsche Großbüros wie von Gerkan, Marg & Partner machten Vorschläge, auch Kanzleramtsarchitekt Axel Schultes hatte sich etwas Originelles ausgedacht. Einer der Höhepunkte dieser Zeit der Ideenfindung war die Serie des „Tagesspiegels“ ab Herbst 1996, in der jede Woche ein anderes Architekturbüro seine Vision für die Mitte Berlins beschrieb. Unter den 24 Teilnehmern waren prominente Namen, aber auch unbekanntere Büros aus der Hauptstadt. Wer gehofft hatte, hier ein überzeugendes Beispiel für einen modernen Neubau zu finden, wurde enttäuscht. Auch keiner der anderen in all den Jahren publizierten Vorschläge fand ein nachhaltiges Echo.
Es war eben nichts dabei, was bei den Menschen ein Gefühl der Beglückung ausgelöst hätte, nichts, was mit der Schönheit und Pracht der einstigen schlüterschen Barockfassaden hätte konkurrieren können. Am Ende fühlte sich der Großteil des Publikums in seinem Eindruck bestätigt, dass man diesen bedeutenden Ort lieber nicht den zeitgenössischen Architekten überlassen sollte. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, zu der Zeit im Staatsratsgebäude am Schlossplatz untergebracht, gab dieser Stimmung 1999 in einem Interview mit der „Zeit“ Ausdruck. Er plädierte für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, „und zwar einfach, weil es schön ist“, so sein entwaffnendes Argument, und „um dem Volke etwas für die Seele zu geben“.
20 Jahre nach der Errichtung der Schlossattrappe zeichnen sich heute wieder die Ausmaße des einst größten Barockbauwerks in Norddeutschland ab. Wenn man von der Dachterrasse der Humboldt-Box auf die Baustelle hinunterblickt, erkennt man bereits deutlich den Entwurf des italienischen Architekten Franco Stella: den Haupteingang durch das Eosanderportal und die quadratische Fläche der Eingangshalle, die beiden Veranstaltungssäle in der Nordwestecke, das lang gezogene Schlossforum, das Lustgarten und Breite Straße verbinden wird, schließlich die Abmessungen des Schlüterhofes.
Bisher liegt der Neubau, im Gegensatz zu anderen deutschen Großprojekten, im Zeit- und Kostenrahmen. Wenn es dabei bleibt, wird der gewaltige Kubus Ende 2014 als Rohbau vor aller Augen stehen, frühestens 2018 soll das Bauwerk fertig sein. Für die Erprobung und Einrichtung des Gebäudes wurde ein weiteres Jahr eingeplant, die Eröffnung wird wohl nicht vor 2019 gefeiert. Vielleicht dauert es auch noch ein weiteres Jahr, bis die letzte Skulptur in die Fassade eingebaut ist. Nach 500 Jahren Schlossgeschichte und 20 Jahren Schlossdebatte sollte es auf ein oder zwei Jahre mehr nicht ankommen.
Quelle: Die Welt 06.09.2013