von Thomas Kielinger
Wird der Direktor des Britischen Museums das 2019 eröffnende Humboldt-Forum leiten? Neil MacGregor wäre die Idealbesetzung für den wichtigsten neuen Kulturposten
Fällt der Name Neil MacGregor, geht einem sofort ein Licht auf, und wir erinnern uns an „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ oder an „Shakespeares ruhelose Welt“. Der Direktor des Britischen Museums ist eine Ausnahmeerscheinung unter seinesgleichen. Ein von Wissen geradezu triefender Mann, ein kultureller Leuchtturm Britanniens, rastlos in seinen geistigen Vorstößen, überwindet er wie spielend nationale Grenzen und schafft es, fremde Kulturen in seinen Kosmos zu integrieren, als seien sie ihm angeborene Gewächse. Diese Anverwandlungskunst hat er jüngst erneut zum Thema Deutschland demonstriert, mit seiner noch bis Mitte Januar geöffneten und vielfach gefeierten Ausstellung „Germany – Memories of a Nation“. Der begleitende Band ist auf Englisch seit November auf dem Markt, MacGregors Radiosendung zum Thema der Ausstellung ebenso. Auf Deutsch kommt sein Buch im nächsten Jahr bei C. H. Beck heraus.
MacGregor denkt in Bildern und Objekten und entwickelt mit ihnen als rotem Faden seine beschreibende Analyse. Jeder Gegenstand ist ihm ein Sesam-öffne-dich, und so entsteht am Ende das Porträt eines Landes, greifbarer als akademische Werke zum gleichen Thema. Der Herr des Britischen Museums, der seit der Übernahme seines Amtes im Jahr 2002 diese altehrwürdige Institution aus ihrer Verschlafenheit zu neuer Blüte geführt hat, bewirkt mit seiner Deutschland-Leidenschaft mehr für das Ansehen und die Kenntnis unseres Landes auf der britischen Insel als viele andere ähnlich Bemühte; dabei ist der Markt seit Längerem reich gesegnet mit vorzüglichen einschlägigen Titeln. Was Madame de Staël mit ihrem „De l’Allemagne“ (1813) für die Vermittlung Deutschlands im frühen 19. Jahrhundert leistete, gelingt MacGregor zweihundert Jahre später mit seiner grandiosen Expedition in das aufregende deutsche Gelände.
Diesen Mann in die deutsche Hauptstadt zu locken, mit der Einladung, dereinst die Leitung des noch im Bau befindlichen Humboldt-Forums zu übernehmen, ist eine verführerische Idee. Dort auf der Spreeinsel sollen die Berliner Sammlungen der außereuropäischen Kulturen in dem wiedererstandenen Stadtschloss ihre neue Heimat finden. MacGregor in London abzuwerben, wäre ein Akt vertretbaren personalpolitischen Wilderns. 15 Jahre lang hat er Londons National Gallery geleitet, es werden annähernd ebenso viele Jahre an der Spitze des Britischen Museums sein – da dürfte künstlerische Neuverwandlung für einen Kronzeugen des „Stirb und Werde“ die genau richtige Herausforderung sein.
Vor fünf Jahren schlug MacGregor eine Einladung aus, die Leitung von New Yorks Metropolitan Museum of Art zu übernehmen. Das Ansinnen kam zu früh, er hatte noch viel zu viel vor mit dem Britischen Museum und dessen Weltgeltung. In zwei Jahren wird das Bild womöglich ein anderes sein, wenn MacGregor die 70 erreicht. Angela Merkel hat bereits ihr Auge auf den Tausendsassa an der Great Russell Street in Londons Bloomsbury geworfen, wie man hört. Sie sollte ihren Blick nicht abwenden. Mit den Sammlungen der Museumsinsel und dem Humboldt-Forum dürfte Berlin zu einem weiteren Magneten werden, wo auf kleinem Raum mehr Kulturgeschichte versammelt sein wird als selbst in Paris oder London – genau die Ausstrahlung, die einen Neil MacGregor animieren könnte.
In einer zentraleuropäischen Lage wie Berlin käme neben den Talenten des Museumsdirektors noch eine andere Qualität zum Tragen: sein subtiles politisches Sensorium, sein Talent zum Brückenbauen über die politischen Verwerfungen der Zeitgeschichte hinweg. Davon hat er soeben ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt: In einer Geheimaktion ließ er das „Ilissos“-Fragment, eine der siebzehn Figuren aus dem Athener „Parthenon-Fries“, die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in britischem Besitz befinden und als „Elgin Marbles“ bekannt sind, nach St. Petersburg bringen, als Leihgabe an die Eremitage, die im kommenden Jahr 250 Jahre ihres Bestehens feiert. Lassen wir einmal die Empörung in Athen beiseite, wo man die „Elgin Marbles“ als nationales Eigentum ansieht – MacGregor hat sie willig in Kauf genommen für ein höheres Ziel: die gegenwärtige Eiszeit in den Beziehungen zu Russland mit einer Demonstration des kulturellen Primats zu unterlaufen. „Solche Leihgaben müssen zwischen Museen weitergehen“, schreibt er, „unbeschadet der Unstimmigkeiten zwischen Regierungen. Diese Position wird entschieden auch von unserem Partner in St. Petersburg vertreten“. Das klingt anrührend selbstverständlich und ist doch ein Politikum erster Ordnung.
Mit dem antiken Wassergott „Ilissos“, benannt nach dem Athener Flüsschen, an dessen Ufer sich einst Sokrates und Phaidros in Platons Dialog über die Werte der Schönheit und der Liebe unterhielten, erinnert MacGregor an die Geschichte des Eremitage Museums, eines „Leuchtturms der russischen Aufklärung, ein Fenster, durch das Russland den Rest der Welt entdecken und mit ihm in Kontakt treten konnte, um teilzunehmen an den Debatten, die Europas Kultur und Gesellschaft belebten“.
Fenster der Aufklärung? Teilnahme an den animierenden Debatten über die europäische Kultur? Wladimir Putin, in St. Petersburg geboren und dort als KGB-Chef hochgekommen, könnte diesen Idealen nicht ferner stehen. Und doch tritt der Direktor des Britischen Museums mithilfe eines 2500 Jahre alten Marmorfragments eines unbekannten griechischen Künstlers in einen Dialog mit den russischen Machthabern der Gegenwart, wie es die Politik nicht vermag. MacGregor aber tut es: „So verkörpert die Figur des ‚Ilissos‘ die zentralen Werte von Dialog und Diskussion, der Grundlage unserer heutigen Ideale intellektueller Suche und politischer Freiheit. Sie ist ein sprechendes Symbol der Schlüsselwerte sowohl des antiken Athens als auch der europäischen Aufklärung.“
Niemand kann wissen, ob solche Sprache im Herz der politischen Finsternis, die Putin um sich verbreitet, überhaupt ankommt. Aber als Versuch, den Kontakt zu Russland aufrechtzuerhalten, liegt hier ein Signal von großer Bedeutung vor. Das „Ilissos“-Fragment ist ein weiterer von MacGregors Versuchen, am geeigneten Objekt Geschichte, nicht nur Kulturgeschichte, offenzulegen. Auch aufgrund dieser das reine Museums-„Geschäft“ transzendierenden Begabung wäre er in Berlin ein Angelpunkt der kulturpolitischen Gegenwart. Es gibt heute nicht viele kulturgesättigte Persönlichkeiten, deren Horizont Wissen und Kommunikation, Kunst und Politik umfasst und die sich weltweit hörbar gemacht haben. Neil MacGregors Wechsel nach Berlin an die Spitze des Humboldt-Forums, in vielleicht zwei Jahren, wäre ein britisches Geschenk an Deutschland und seine kulturelle Erneuerung.
Quelle: DIE WELT, 10.12.2014