„Die Kultur fließt“

10.04.2016    DIE ZEIT online

Mitten in Berlin entsteht im neuen Stadtschloss das Humboldt Forum. Wie kann daraus Deutschlands modernstes Museum werden – und dazu ein attraktiver Veranstaltungsort? Ein Gespräch mit den Leitern der wichtigsten Berliner Kultureinrichtungen über ein ehrgeiziges Vorhaben

Interview: Moritz Müller-Wirth und Thomas E. Schmidt

Das Humboldt Forum im Berliner Schloss ist derzeit das größte und finanziell ehrgeizigste Projekt der Bundeskulturpolitik. Wenn es 2019 eröffnet, wird es die Kulturlandschaft der Hauptstadt verändern. Die ZEIT hat die Leiter all jener Kultureinrichtungen des Bundes zum Gespräch eingeladen, die in ihrer Arbeit vom Humboldt Forum betroffen sind, also die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Haus der Kulturen der Welt und die Berliner Festspiele – aber auch das Auswärtige Amt, das Kultur lange schon in den Dienst der Diplomatie stellt. Ignorieren die Alteingesessenen den neuen Mitspieler, oder richten sie sich mit ihm ein? Und wie könnte das aussehen?

DIE ZEIT: Sind Sie in dieser Konstellation schon einmal zusammengekommen?

Bernd Scherer: Als Runde nicht.

Hermann Parzinger: Aber sonst reden wir viel miteinander.

ZEIT: Wäre es denn sinnvoll, wenn sich diese Runde öfter träfe, im Hinblick auf die kulturellen Veränderungen in Berlin?

Thomas Oberender: Das Hinzutreten einer großen Einrichtung wie des Humboldt Forums wird die Berliner Landschaft tiefgreifend verändern. Ich glaube, die Institutionen, die wir leiten, müssen sich selbstständig und aus sich heraus begründen und bewähren. Das heißt, das Humboldt Forum ist für uns keine verlängerte Arena der eigenen Arbeit. Das Forum lässt sich gedanklich ja in drei Bereiche gliedern: Das eine ist die Sammlung, darunter gibt es eine Ebene der Universität, die diese Sammlung intellektuell reflektiert, und im Erdgeschoss gibt es ein Saisonprogramm auf den aktuellen Ausstellungs- und Theaterflächen. Auf jeder dieser Ebenen können Resonanzen mit anderen Berliner Einrichtungen entstehen, vor allem auf der dritten.

Scherer: Kulturproduktion muss sich heute global orientieren. Was sind die Herausforderungen unserer Zeit? Wir stehen vor epochalen Umwälzungen, die bestehenden Ordnungssysteme funktionieren nicht mehr, der Klimawandel beschleunigt sich, die Nationalstaaten implodieren. Dem stellen wir uns, wir entwickeln neue Formen ästhetischer und wissenschaftlicher Produktion. Im Freiraum der Kunst lassen sich die Konflikte und Antagonismen offenlegen.

ZEIT: Zwischen dem Haus der Kulturen der Welt und dem Humboldt Forum drohen thematische Überschneidungen. Wie wollen sie die vermeiden?

Scherer: Ich sehe das anders: eine großartige Ergänzung! Das HKW entwickelt mit Künstlern und Wissenschaftlern Fragen der Zukunft. Das Humboldt Forum übersetzt das Weltkulturerbe in unsere Zeit, in das 21. Jahrhundert. Wir kuratieren Ideen im Entstehen. Das Forum gewährleistet einen historischen Bezug. In dieser Komplementarität wird es natürlich Zusammenarbeiten geben können.

ZEIT: Das Goethe-Institut könnte, wie ja bereits vorgeschlagen wurde, dem Humboldt Forum mit seinem internationalen Netzwerk unter die Arme greifen. Wie kann auswärtige Kulturpolitik etwas beitragen?

Andreas Görgen: Es ist in Deutschland gute Tradition, dass die Programmarbeit im Ausland von sogenannten Mittlerorganisationen, das heißt von zivilgesellschaftlichen Einrichtungen getragen wird – allen voran vom Goethe-Institut. Unsere Aufgabe als Auswärtiges Amt ist es, über die gesamte Spannbreite von Sprache, Bildung, Kultur und Wissenschaft Freiräume im vorpolitischen Raum zu schaffen, zu erhalten und zu pflegen, in denen sich Menschen austauschen können über Verschiedenheiten. Es geht um Diskursräume, in denen sich herausbilden kann, was Außenminister Steinmeier „kulturelle Intelligenz“ genannt hat: Vertretern der anderen Haltung zuzuhören – aber eben auch eine eigene Haltung zu entwickeln, kurz: die Verlängerung des Humboldt Forums ins Ausland.

ZEIT: Und was hieße das für das „Innen“ der Bundesrepublik?

Görgen: Diese Erfahrung aus dem Ausland können wir ins Inland tragen und dabei klarmachen, dass der vorgebliche Austausch zwischen innen und außen in Wahrheit ein wissenschaftlicher und kultureller Diskurs ist, der lange schon die Grenzen des Nationalstaates überwunden hat.

ZEIT: Herr Parzinger, was könnte Ihre Stiftung zu einer Kultur beitragen, die im Humboldt Forum ihre eigenen Grenzen und Begrenztheiten befragt?

Parzinger: Unsere Sammlungen aus aller Welt bilden das Rückgrat des Humboldt Forums, aber wir verstehen es nicht nur als Museum, auch wenn es die Erweiterung der Museumsinsel mit ihren Sammlungen zur Kulturgeschichte Europas und des Nahen Ostens darstellt. Das Humboldt Forum ist ein neues, hoffentlich populäres Stadtquartier mit internationaler Kultur: Film wird dort ein Thema sein, auch Musik, Performatives, Forschung, Debatten, Wechselausstellungen. Da gibt es sehr viele Schnittmengen mit anderen Playern. Das ist das Tolle an Berlin, eine Stadt voller Kooperationspartner. Wir wünschen uns, eines Tages auch ein Spielort der Berlinale oder für das Kreuzberg-Museum zu sein. Die Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturpolitik sind für uns ebenso wichtig. Und wir merken, dass wir bei Fragen der Sammlungspräsentation ohne einen intensiven Dialog mit Vertretern der Herkunftsländer gar nicht auskommen können.

ZEIT: Abgesehen von Kooperation und Partnerschaft: Das Humboldt Forum muss diesen „Mehrwert“ aus sich heraus generieren. Wer erfindet diesen eigenen, besonderen Geist der neuen Einrichtung?

Scherer: Der Mehrwert kann nicht darin bestehen, dass alle mit allen kooperieren. Kulturinstitutionen brauchen ganz eigene, spezifische Zugangsweisen. Jede Zeit muss ihre Geschichte neu schreiben. Das Humboldt Forum erzählt über die ethnologischen Sammlungen nicht nur die Geschichte der anderen, sondern auch unsere. Unsere Wissensgeschichte ist in Teilen Kolonialgeschichte: Europa entriss im 19. und 20. Jahrhundert der kolonialisierten Welt Objekte, um hier Wissen über die Welt zu ermöglichen.

Oberender: Der „Mehrwert“ unserer Arbeit bei den Festspielen beruht darauf, dass Kunst kein Vehikel ist. Kunst ist keine Krücke zur Erfüllung sozialtherapeutischer oder politischer Zwecke, sondern stellt einen Eigenwert dar, der entsprechende Rahmenbedingungen benötigt. Wir selbst sollten unsere Agenda setzen können und nicht Stiftungsjurys. Der „Mehrwert“ von Kunst, wie wir sie im Gropius-Bau oder Festspielhaus zeigen, beruht auf ihrer andersartigen Sprache – sie verändert durch Erleben, schafft Gedächtnis und überhaupt erst die Sensibilität, das Neue zu erfassen.

ZEIT: Das Humboldt Forum mit seiner Finanzausstattung und der wuchtigen Architektur des Schlosses – kann da überhaupt etwas aus der nationalen Gravitation entkommen, anders: Kann man dort etwas machen, was nicht auf die Nation bezogen ist?

„Es entsteht ein neues Wir“

Oberender: Was heißt denn heute „nationale Kulturpolitik“, wenn Herr Görgen sagt, dass innen und außen derart ineinanderfließen? In einer globalisierten Welt ist das Ausland ja immer schon da, und die Fragestellungen, die das Draußen betreffen, sind ziemlich die gleichen wie drinnen. Wie tangiert das die Arbeit unserer Institutionen? Die müssen sich doch heute anders aufbauen als vor 150 Jahren, als die Museumsinsel entstand. Das kann doch nicht im gleichen Geiste geschehen. Geht es noch im gleichen Maße um Dinge und Werke, oder regen Institutionen heute nicht verstärkt Prozesse an und führen sie vor? Wenn das der Fall ist, formt sich einiges um.

ZEIT: Wie müsste ein Humboldt Forum organisiert sein, das diesen Anforderungen gerecht wird?

Parzinger: Das Humboldt Forum ist aufgrund unserer Sammlungen auch eine Gedächtnisinstitution, aber nicht nur das. Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln werden weiterhin wichtig sein, doch das Forum muss prozesshaft bleiben, also aktuell auch auf die Weltlage reagieren, und zwar stärker, als das irgendwo sonst in der Museumswelt geschieht. Das wird übrigens auch Rückwirkungen auf die Arbeit der Museumsinsel haben. Und 2016 wird ganz entscheidend für die Struktur, die wir gerade aufbauen. Es sind nun circa 25 Stellen zu besetzen, um das Humboldt Forum arbeitsfähig zu machen. Denn drei Intendanten und Paul Spies für das Land Berlin machen das nicht allein.

ZEIT: Herr Görgen, ein Blick von gewissermaßen draußen: Was wäre aus Ihrer Sicht eine wünschenswerte Leitungs- und Organisationsstruktur für das Humboldt Forum?

Görgen: Mir scheint ein Selbstwiderspruch in der Frage zu liegen. Einerseits wird zu Recht gefordert, einen kulturnationalen Ansatz zu überwinden und sich für die Arbeit zwischen innen und außen zu öffnen. Auf der anderen Seite aber wird die Forderung erhoben, eine Struktur von hier aus, aus dem Selbstverständnis der deutschen Verwaltung, zu entwickeln. Ich denke, der „Geist“ oder das Eigenständige des Humboldt Forums wird in der gemeinsamen Arbeit entstehen. Deswegen legen wir das Augenmerk mehr auf Prozesse, die Wissenschaft, Museen und Kultur integrieren, als auf die Frage nach der Verwaltungsstruktur – also eher ein Black Mountain College als eine Behörde.

Oberender: Ein Problem teilen wir alle: Heute wird großen Institutionen misstraut – hegemoniale Großstrukturen wie unsere wirken eher verdächtig als smart. Besucher sind heute nicht mehr einfach nur Konsumenten, sie sind auch Co-Produzenten, ihr Feedback baut uns auf und um. Wir brauchen in den nächsten Jahren auch intern Formen eines guten Zusammenspiels: Zwischen den Berliner Opernhäusern besprechen die Intendanten ja auch ihre Programme. Ich halte es für wichtig, dass es kurze Wege gibt und auch ritualisierte Begegnungsformen, damit solche Gespräche aus dem Informellen herauskommen.

Scherer: Mithilfe einer Intendantenstruktur kann man einer Institution ein klares Profil geben. Gelingt eine solche Profilschärfung, bereichert das Humboldt Forum die Kulturlandschaft der Hauptstadt. Wenn wir uns dann darüber verständigen, woran jeder arbeitet, dann kann in Berlin eine Komplexität in der Auseinandersetzung mit Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit entstehen, die man in dieser Form weltweit nicht hat.

Parzinger: Da stimme ich hundertprozentig zu. Das Humboldt Forum darf keine hegemonial empfundene Positionierung einnehmen oder Aufgaben anderer an sich ziehen, dann könnte es seinen Zweck nicht erfüllen. Natürlich gibt es Ängste, wenn da plötzlich ein solches „grand projet“ mit entsprechendem Budget daherkommt, weil das eine enorme Zugkraft und Wirkung entfalten wird. Gerade deshalb braucht es ein kluges Zusammenspiel mit den Partnern. Und die künftigen Intendanten des Humboldt Forums brauchen bei ihrer Arbeit Unabhängigkeit, das hat in unserem Lande mit Recht gute Tradition.

ZEIT: Wird sich eine Differenzierung nicht auch durch die unterschiedlichen Zielgruppen ergeben?

Parzinger: Man muss daran erinnern: Der Palast der Republik wurde ja immer als Haus des Volkes tituliert, aber war er das wirklich? Besteht nicht jetzt die wirkliche Chance, einen jahrzehntelang okkupierten Platz für alle zu öffnen, um der Stadt und ihren Bürgern wirklich eine Mitte zu geben? Wir müssen erreichen, dass zum Beispiel auch ein Automechaniker mit türkischen Wurzeln aus Neukölln weiß: Da im Schloss ist ein Ort, an dem interessante Dinge stattfinden; da werden mir Dinge erklärt, die mich beschäftigen.

ZEIT: Eröffnet ein entstehendes Humboldt Forum auch die Chance, Kulturpolitik an neue Herausforderungen anzupassen?

Görgen: Wenn erstens jede Kultureinrichtung auch der kulturellen Selbstvergewisserung gilt und wenn wir zweitens wissen, dass dies ein anstrengender Prozess ist und drittens nicht mehr nur mit Blick auf uns geschehen kann, dann lautet die Antwort: Ja. Die entscheidende Frage ist doch der Zugang zu Kultur und Bildung – auch um Gewissheiten, die wir scheinbar leicht erworben haben, neu zu formulieren. Dieser Selbstvergewisserungsprozess ist anstrengend, aber er muss geleistet werden, und zwar gerade heute in der Verbindung von innen und außen.

ZEIT: Bei alldem scheint es gleichwohl immer nur um uns zu gehen. Man könnte auch meinen, das Humboldt Forum sei nur eine große Show der Bundesrepublik und Berlins, denen es im globalen Zeitalter um ein weltoffenes Image geht. Also, wer spricht? Und wie deutsch ist der?

Scherer: Lange haben wir von Europa aus definiert, was die Welt ist. Erst in dem Moment, in dem wir unseren eigenen Standpunkt zur Disposition stellen, entsteht Augenhöhe. Um das Gegenüber ernst zu nehmen, müssen wir unseren eigenen Standpunkt mitverhandeln. Deshalb habe ich ja auch dafür argumentiert, dass die Institutionen eine eigene Position haben müssen.

Parzinger: Ich glaube, man muss sich diese Frage immer wieder stellen. Wir wollen die unterschiedlichsten Perspektiven zulassen, aber wir sind natürlich Deutsche, jetzt mit dem Briten Neil MacGregor und dem Niederländer Paul Spies zusammen, die das Projekt Humboldt Forum auf den Weg bringen.

Scherer: Aber Deutschland verändert sich ja gerade. Es entsteht ein neues Wir, das sich aus den vielen Bürgern der Welt zusammensetzt, die eine neue Gesellschaft schaffen.

Parzinger: Und wir sind Teil dieses Prozesses, dieser aktuellen Veränderungen, die künftig zu Deutschland gehören werden, auch mit unserer eigenen Geschichte, selbst mit der persönlich nicht erlebten. Europa ist nicht mehr das Weltdeutungszentrum, die Gewichte haben sich verschoben, darauf muss das Humboldt Forum reagieren.

Oberender: Ich empfinde uns schon nicht mehr als die „letzten Deutschen“, wie sie Botho Strauß unlängst beschrieb. Das Nationale ist für mich ein fixer Rechtsraum, die Kultur aber fließt. Geprägt ist sie von nationalgeschichtlichen Perspektiven, aber eben auch anderen. Das erzwingt, diese Perspektive in die Institutionen und in die Politik mit einzubeziehen. Das alte Repräsentationsverständnis in den Künsten hat sich in den letzten Jahrzehnten doch sehr verändert. Eigentlich ist es im Moment viel interessanter, dass diese Kultur von so vielen anderen Kulturen mitbewohnt und geprägt wird.

 

Quelle: DIE ZEIT online, 10.04.2016

 

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