27.12.2015 Die Welt
Am 1. Januar wird Neil MacGregor Direktor des Humboldt-Forums. Wer ist der Mann, der dem deutschen Geist ein Zuhause geben will? Eine Begegnung
Von Mara Delius
Yet. In drei englischen Buchstaben steckt eine deutsche Zukunft. „I’m not ready yet“, sagt Neil MacGregor, er werde noch nicht über das Humboldt-Forum sprechen, stilles Lächeln. Die Betonung liegt auf „noch“.
Sonntag früh, wenige Kilometer entfernt ruht das deutsche Vorzeigeprojekt auf riesigem Gelände, als habe es sich mit sich selbst abgefunden, damit, dass es eine vorbelastete Geschichte trägt. An den Rohbetonwänden, die in den letzten Monaten neorealistenfilmhaft karg in den Himmel ragten, wurden gerade die ersten Fassadenelemente angebracht: sauberer Baumarktklinker und wiederauferstandene Barockgröße, Mattrot und Ockergelb neben Grau. Ein kurzes Blinzeln, und man sieht unter den nasskalten Wolken unentschlossene Nationalfarben verlaufen, eine baselitzartige Szene.
Neil MacGregor spricht nicht über seine Pläne für das Humboldt-Forum, das weiß jeder, der ihn trifft. Nichts zu Humboldt, nein, man vereinbart es vorab, eine diplomatische Geste, irgendwo zwischen Respektbekundung und Nichtangriffserklärung. „Not yet.“
Wer einen Briten verstehen will, muss auf den Ton seiner Worte hören, Nuancen und Melodie, nicht einfach auf das, was er sagt. Neil MacGregors „yet“ klingt sanft und hell, aber unumstößlich; in ihm versiegelt, wartet ein Geheimnis: was denn nun genau im Innern des Humboldt-Forums geschehen wird. Bekannt ist, dass das rund 620Millionen Euro schwere Vorhaben ein nationales Identitätsprojekt ist und als solches aufgeladen mit Zukunftserwartungen und Vergangenheitslast. Allein was die knapp 30.000 Quadratmeter säuerlich-modriger Sandboden, auf dem es stehen wird, über die Jahrhunderte getragen haben: das Schloss von 1443, Renaissanceanfang und Barockumbau, preußische Könige, Schinkel, Balkonreden und Novemberrevolution, Naziaufmärsche, Vernichtungsbeschlüsse, den Palast der Republik, Technoabrisspartys und Liegewiesenhedonismus, zuletzt eine Großbaustelle; ein modellhaft geschichtsträchtiger Ort.
Auf all diesen abgesackten Schichten deutscher Machtverhältnisse und ihrer Umstürze wird nun Ende 2019 ein Gebilde eröffnen, das Neues verspricht: der weltweit umfangreichste Museumsbau, mit unterschiedlichen Sammlungen auf zwei weiten Stockwerken und einer Ebene für Veranstaltungen, nach dem alten Prinzip der Kunstkammer. Das Humboldt-Forum will aber – und hier wird aus einem Einzelfall der Kulturpolitik eine gesellschaftliche Grundsatzfrage – mehr schaffen als nur ein Museum; es soll auch ein Monument für Deutschland heute sein: weltoffen, selbstbewusst, aber nicht geschichtsvergessen.
In der offiziellen Beschreibung der Internetseite liest man die übliche Verständigungs-und-Vermittlungs-Rhetorik: Von „Vielfalt“, „Dialog“ und „globaler Relevanz“ ist die Rede, einem „Begegnungszentrum“, das das Ausgestellte „erlebbar“ macht; Kulturmanagergrußwortprosa, in die ein Pfund aufklärerische Ideale der Gebrüder Humboldt hineingewürzt ist. Was darin untergeht, vielleicht auch unterdrückt wird: Das Humboldt-Forum soll einem Phänomen ein Zuhause geben, das das Projekt im Ganzen tatsächlich explosiv macht – und zwar jenseits der oberflächlichen Fragen, ob der Schlossnachbau überhaupt sinnvoll ist und das Geld gut eingesetzt, ob die Personalien geschickt gewählt sind und die Mischung der Sammlungen einleuchtet. Was das Humboldt-Forum beherbergen soll ist: deutscher Geist.
In welcher Gestalt und wie er sich zeigt, dafür wird in wenigen Tagen Neil MacGregor verantwortlich sein, als „Leiter der Gründungsintendanz mit kuratorischer Gesamtverantwortung“. In seiner bürokratenhuberischen Sperrigkeit fügt sich der Titel etwas holprig an die anderen Auszeichnungen des schottischen Briten, darunter ein Order of Merit, Ehrendoktorwürden, ein Ritterschlag, den er ablehnte. In den nächsten Stunden wird MacGregor es auf Deutsch wiederholen, „Leiter der Gründungsintendanz“, in einer Mischung aus ehrlichem Stolz und kindlichem Erstaunen über die setzkastenmäßig verschachtelt zusammengebaute Wortfolge. Dezente Ehrerbietung und vergiftetes Kompliment liegen im Englischen nah beieinander. Offiziell hat MacGregor die Position bereits seit vergangenem Oktober inne, war aber noch bis Ende des Jahres Direktor des British Museum, ab Januar steht er nun aktiv in deutschen Diensten. Aber was heißt das genau? Neil MacGregor sagt „not yet“, aber es bedeutet mehr als „noch nicht“, stilles Lächeln, Schweigen.
„Lichtgestalt“, „Universalgelehrter“, „Aufklärer von heute“: Denkt man an die Begeisterung, die losbrach, als die Berufung MacGregors bekannt gegeben wurde, scheint der vorfreudig-überbordende Ton nicht zu passen auf den grunddezenten Mann, der einem, gemessenen Schrittes, angenehm reserviert, ruhig, im holzvertäfelten West-Berliner Hotelfoyer entgegenkommt, als träte er aus seiner Oxforder College-Bibliothek, gedankenvoll und zugleich zielstrebig, entschlossen auf dem Weg zur nächsten Idee.
Wird MacGregor die deutschen Erwartungen erfüllen? Und wessen Erwartungen sind das überhaupt – die von Kanzlerin Merkel, zu der er ein vertrautes Verhältnis hat; die von Kulturstaatsministerin Grütters, die ihn berufen hat; die der Öffentlichkeit, und was meint das – Bürger, Touristen, den Zeitgeist, die nachfußballweltmeisterliche Unverkrampftheit? MacGregors Kritiker jedenfalls – sie sprechen nur hinter vorgehaltener Hand, der Mann ist erwiesenermaßen zu erfolgreich, sympathisch, wendig, mächtig – verweisen darauf, dass er immerhin länger gezögert habe, dem Ruf nach Berlin zu folgen. Die Skeptischen unter ihnen deuten sein Schweigen zu Einzelheiten der Pläne als Unklarheit; er wisse wohl selbst noch nicht genau, wie diese eigentlich aussähen.
Wenn jemand versteht, was Kairos meint, was Fallhöhe bedeutet und wie man sie für sich nutzt, dann Neil MacGregor, Shakespeare-Kenner und Stimmungsdirigent. Den richtigen Moment zu treffen ist bei Inszenierungen alles, und das Humboldt-Forum ist die bedeutendste eines Landes, das er seit Schulzeiten bewundert, vielleicht sogar verehrt; er beherrscht dessen Sprache bis in die Endsilben und Genitivableitungen hinein, er kennt die nationalen Sensibilitäten.
Es wäre falsch, den 1946 in Glasgow geborenen Mann unter den traditionsreichen Typus des upper middle class-Briten einzuordnen, der geburtsrechtsmäßig im politisch-kulturellen Establishment aufgeht – auch wenn sein Lebenslauf Motive streift, die klassischerweise zum Weg in die Londoner Bildungs- und Machtelite gehören: erst Studium in Oxford, am renommierten New College, Romanistik und Germanistik, Aufenthalt in Paris, nach der Ausbildung zum Juristen folgte mit Ende zwanzig ein Magister in Kunstgeschichte, beim schillernden Sir Anthony Blunt, Leiter des Courtauld Institute, der später als Mitglied der Cambridge Five, eine Gruppe von Spionen für die Sowjetunion, enttarnt wurde. MacGregor las die großen Exilanten, Gombrich, Panofsky. Englands educated classes der Sechzigerjahre waren noch geprägt vom europäischen Bildungsideal des neunzehnten Jahrhunderts, Deutsch zu lernen gehörte zum guten Stil. Die Eltern hatten beide den Krieg miterlebt, ihnen war es wichtig, dass er sich zum Europäer entwickele, erzählt MacGregor später beiläufig, der Krieg war allgegenwärtig, so als sei er selbst dabei gewesen.
„Germany: Memories of a Nation“ ist Neil MacGregors Vermächtnis in der Sphäre zwischen Politik, Wissen, Kunstvermittlung und Zukunftsbildung. Deutschland ausgerechnet im mehrfachen Gedenkjahr 2014 und ausgerechnet an den beiden Ur-Institutionen britischer Aufklärung zu zeigen – im British Museum und in der BBC – war ein revolutionärer Akt. Das Land erschien in der vollen Breite seiner Geschichte, einer Geschichte, die vielen Briten bis auf die düsteren Jahre 1933 bis 1945 unbekannt war. Deutschland wurde zu einem Publikumsmagnet; die Ausstellung war eine der meistbesuchten des Museums überhaupt, den Podcast der BBC luden Millionen.
Aus deutscher Sicht vergisst man es leicht: den kühlen Stolz Londons, die deutschen Angriffe überstanden zu haben, die von Bomben zerstörte Palastseite, die jüdischen intellektuellen Exilanten in Hampstead und Highgate, die Bunker im tiefen Tunnel der Northern Line. Der ferne Nachhall des Krieges war noch vor zehn Jahren spürbar. Deutschland wirkte so unergründlich im Bösen wie in seiner sonstigen Unscheinbarkeit; es bedeutete entweder Drögheit (blässlich, zuverlässig, pflichtbewusst) oder ein Kuriositätenkabinett der Extreme, Hitler, Stasi, vielleicht noch Kraftwerk. MacGregor schaffte es, genau den Moment zu treffen, als die Briten begannen, sich für das seltsame fremd-nahe Land zu interessieren, und fand einen Ausdruck für ihn, ohne den muffigen Mürbekeksgeschmack der gewohnten Kulturinstitutsveranstaltungen.
MacGregor selbst tut es ab, die Zeit sei einfach passend gewesen. Aber man muss sie feinfühlig erspüren können, um ein schwierig-riskantes Thema zu setzen. Der British spirit, geschaffen vom Empire und geschärft von Churchills „We shall fight them“, hatte sich jahrzehntelang in Abkehr von deutschem Geist geformt. Es waren zwei entgegengesetzte Pole, die Welt wahrzunehmen.
Neil MacGregor nickt freundlich und formvollendet zur Begrüßung, man will sich setzen. Kurz entsteht eine peinliche Situation: Es gibt nur ein Sofa. Beide auf dem Sofa wäre zu nah, intim. Für die deutsche Sensibilität gerade auszuhalten, für britische nicht. Es ist keine Kühle, wie sie Briten unterstellt wird, sondern eine reserviertere Form der Nähe, des Bezugnehmens. Der Umgang mit sich in der Welt ist subtil gefasster, komponierter. MacGregor rückt einen Sessel heran und setzt sich neben das Sofa.
Das Buch, das aus „Memories of a Nation“ entstanden ist und, seitdem es in deutscher Übertragung bei Beck erschienen ist, auf den Bestsellerlisten steht, erzählt an Objekten entlang: Silbertaler von 1700, Meissener Porzellan, Trinkkrüge, Wurstwarenplakate, Tischbeins Goethe, Barlachs „Der Schwebende“, das Tor zum Lager Buchenwald, Handkarren von ostpreußischen Flüchtlingen, ein DDR-Schwimmanzug, in dem jemand die Grenze überquerte. Nimmt man die Erzählungen zusammen, die aus den Objekten entwickelt werden, entsteht das Panorama eines in sich zerrissenen Landes, ein Deutschland, das bis heute nur im Kleinen, auf Einzelstaatenebene, mit sich im Reinen sein konnte, nie im Ganzen; man sieht ein Land, das ruhelos mit der eigenen Identität befasst ist. Ist das nun schlecht oder gerade gut? MacGregors Buch wirkt, bei aller historischen Sachlichkeit, wie eine Verbindung von Physiognomieskizze und Psychogramm. Vielleicht erlaubt die Sichtachse des wissenden Außenseiters einen genaueren, aber gleichzeitig gnädigeren Blick.
„Haben wir Deutsche immer noch ein Problem zu sagen, wer wir sind, was unser Land ausmacht – oder gerade nicht?“ Aus Neil MacGregors Gesicht, das die letzten Minuten begeistert von den idiosynkratischen Widersprüchlichkeiten deutsche Geschichte glühte, weicht eine Nuance, als wolle er, als Brite ein Mann des analytisch Konkreten, sich genau nicht mit metaphysischen Fragen auseinandersetzen: „Ein Problem? Das weiß ich nicht, ich kann es nicht wissen. Nur Deutsche können diese Frage beantworten. Mir ging es um etwas anderes. Ein Inselvolk wie uns Briten versetzt es in existenzielle Panik, nicht zu wissen, wo unsere Grenzen sind, unvorstellbar. Für Deutsche – denken Sie nur an Kaliningrad oder Straßburg – liegen weite Teile ihrer Kultur außerhalb der Grenzen. Faszinierend!“ Wie stellt man dann nationale Identität überhaupt aus? MacGregor erklärt, dass das British Museum, das er dreizehn Jahre geleitet hat, ein Gesellschaftsmuseum ist, ein Produkt der Aufklärung: „Das Prinzip ‚Gullivers Reisen‘: Man bereist die Welt und versteht sie dann aus anderer Perspektive; man sieht sich und seine Gesellschaft danach anders.“ Wie wäre es hierzulande? Wurde der aufklärerische Impuls nicht vergiftet? Würde er rekonstruiert oder neu geschaffen, was würde ihn ausmachen?
Es ist die alte Frage: wie eine Nation der eigenen Geschichte gedenkt; wie man sich erinnert, den Blick zurückwirft, ohne dabei das Kommende zu übersehen. An dieser Stelle unterscheiden sich beide Länder essenziell. „Ja, aber wissen Sie, es geht nicht einfach um Erinnerung“, sagt MacGregor ruhig, aber bestimmt, „entscheidend ist, wie man seiner Niederlagen gedenkt. Britische Denkmäler beziehen sich auf die Vergangenheit. Sie sind für diejenigen errichtet worden, die gekämpft, die gesiegt haben. Gedenken bedeutet, sich zu versichern, dass wir uns richtig verhalten haben. Wir haben kein Wort für Mahnmal. In Deutschland gehören der Akt des Sich-Erinnerns und der des Sich-infrage-Stellens zusammen. Mir scheint das die produktivere Art des Gedenkens, wenn man tatsächlich etwas verändern will.“
Am Nachmittag stellt MacGregor sein Buch vor: frei redend, in geschliffenem Deutsch. Im voll besetzten Saal: älteres Bildungsbürgertum, aufgeladene Begeisterung. Gelegentlich wird gelacht, manchmal zu früh oder zu spät, MacGregor scheint die leichte Verbindungsstörung zu spüren, überspielt sie aber elegant. Erscheint er den Deutschen als der bessere Deutsche? MacGregor zeigt das Bild, das auch „Memories of a Nation“ abschließt: Gerhard Richters Porträt seiner Tochter Betty. Eine junge Frau in Rot blickt ins Dunkel hinter ihr, man sieht nicht ihr Gesicht, nur den Hinterkopf, leuchtende Haare. „Bald wird sie sich umdrehen“, sagt MacGregor, „und uns ansehen und die Zukunft.“
Vielleicht ist der Moment jetzt gekommen – weil die deutsche Identität mit Neil MacGregor bekommt, was sie noch nie hatte: Spirit.
Quelle: Die Welt, 27.12.2015