Das Schloss lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloss

Darf man das Schloss auf ein steinernes Tablett stellen?

von Peter Stephan, Berlin

Abbildung 1

berliner_extrablatt_ausg-86_gesamt_seite_12_bild_0004Von Wolf-Jobst Siedler stammt der Satz: „Das Schloss lag nicht in Berlin, Berlin war das Schloss.“ (Abb. 1). Doch warum war Berlin das Schloss?

Die Antwort lautet: Weil das Schloss nicht nur in Berlin lag, sondern weil es den Mittelpunkt der Stadt bildete. Der Mittelpunkt des Schlosses wiederum war der Schlüterhof mit dem Großen Treppenhaus (Abb. 2).

Um diese Aussage zu verstehen, ist es wichtig, sich mit der Architektur des Schlosses, seiner Ikonographie und seiner städtebaulichen Funktion zu befassen.

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Beginnen wir mit dem Schlüterhof.

Die Architektur des Schlüterhofs

Zunächst lässt der Schlüterhof die antiken Kaiserforen assoziieren, also jene Plätze, die den Mittelpunkt des alten Roms bildeten, das sich seinerseits als den Mittelpunkt der Welt begriff (Abb. 3). Auch auf den Kaiserforen waren zentrale Solitärbauten von Kolonnaden eingefasst. Wie Johannes Tripps gezeigt hat, sind die freistehenden Kolossalsäulen mit dem sich vorkröpfenden, von Figuren besetzten Gebälk an der Fassade des Großen Treppenhauses sogar ein mehr oder weniger genaues Zitat des römischen Nervaforums (Abb. 4). Den Forumsgedanken aufgreifend, plante Johann Friedrich Eosander zwischen dem Schlüterhof und dem von ihm erbauten zweiten Schlosshof eine Exedra zu errichten, die ganz offensichtlich auf das Trajansforum Bezug nahm (Abb. 5 u. 6). Darüber hinaus gab Schlüter dem Großen Hofrisalit die Ikonographie eines Jupitertempels. Die ineinandergreifenden Helices der Kolossalsäulen folgten den Kapitellen, die Palladio dem Jupiter-Stator-Tempel auf dem Forum Romanum zugewiesen hatte (Abb. 7 u. 8).

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Dementsprechend erschien der Göttervater auch als Hauptfigur im Innern der Treppe (Abb. 9). Über den Initialen FR (= Fridericus Rex) auf dem Rücken seines Adlers reitend, personifizierte er den Bauherrn Friedrich I., während der Adler auf den preußischen Wappenvogel anspielte. Jupiter hatte gerade den im Deckenspiegel imaginierten Götterhimmel verlassen, um mit erhobener Rechten seine Blitze gegen die Giganten zu schleudern, die an der gegenüberliegenden Seite von seiner Tochter Minerva in den Abgrund gestoßen wurden (Abb. 10). Wie auch in anderen barocken Palästen (etwa den Deckenfresken des Palazzo Barbarini in Rom, die Schlüter zweifellos als Vorlage gedient hatten) symbolisierte der Sieg über die Riesen die Durchsetzung staatlicher Ordnung gegen die Kräfte des Chaos und der Anarchie.

Allerdings waren die römischen Foren und Plätze nicht nur Herrschaftszentren und geheiligte Bezirke; sie war auch der Ort, an dem die Römer im Rahmen großer Feierlichkeiten und Feste sich und ihre Stadt inszenierten. Vor allem im Barock wurden das foro zum teatro, an dem die Fassaden als Kulissen, Bühnen und Logen fungierten. Herausragende Beispiele sind der Petersplatz, die Piazza Navona oder der Belvederehof im Vatikan (Abb. 11 u. 12).

Wie die umlaufenden Galerien im Cortile del Belvedere dürften die Laubengänge des Schüterhofs bei besonderen Anlässen als Zuschauerlogen gedient haben (Abb. 2). Und wären Schlüters Lauben, wie von Eosander geplant, an der Westseite des Hofes in eine Exedra übergegangen (Abb. 5), hätte sich sogar die Assoziation zum Zuschauerrund eines Theaters ergeben, das sich im Barock seinerseits häufig an der Architektur von Innenhöfen orientierte. Die bekanntesten Beispiele für solch eine ‚höfische’ Theaterarchitektur sind das Teatro Farnese in Parma und Palladios Teatro Olimpico in Vicenza (Abb. 14 u. 16).

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Betrachtet man das Teatro Olimpico näher, so stellt man fest, dass das Gliederungssystem (übereinanderstehende Säulenordnungen mit Figurenbesatz und einem zentralen Bogen mit Wappenkartusche) der Fassade von Schlüters Treppenhausrisalit sogar recht ähnlich ist. Die Analogie zwischen beiden Architekturen verstärkt sich, wenn man in ihnen ein Proszenium sieht, also die Schauwand, die zu einer dahinter gelegenen Bühne vermittelt.

Diese Lesart setzt freilich voraus, dass Schlüters Risalit ursprünglich unverglast war und somit als die Stirnseite der Treppenhausarchitektur und des darüber gelegenen Vorraums zum Schweizersaal wahrgenommen wurde. Für diese Annahme sprechen mehrere Gründe.

Wie Vorkriegsaufnahmen zeigen, saßen die Fenster unterschiedlich tief in der Fassade, was ebenso wie die unbarocke Proportionierung der Sprossen für eine nachträgliche Verglasung spricht (Abb. 2). Auch zeigen die um 1943 entstandenen Zerstörungsfotos, dass die Stockwerksordnungen der Fassade sich sowohl in den Pilastern des zweiten Obergeschosses als auch in der Säulenarchitektur der Treppenhausgalerien fortsetzen (Abb. 17 u. 18). Nicht zuletzt legen mehrere Kupferstiche und Gemälde des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nahe, dass alle drei Hofrisalite ursprünglich weitgehend, wenn nicht ganz offen waren (Abb. 19).

Wie sehr die Wirkung barocker Treppenhausarchitekturen auf offenen, unverglasten Fassaden beruhte, zeigen Vergleichsbeispiele wie das Hotel Lambert in Paris oder Stift Florian in Österreich (Abb. 21, 22 u. 24). Im Stift Florian kann der Besucher noch heute erleben, wie sich der ‚stufenweise’ Übergang vom Außen­ zum Innenraum inszenieren lässt. Einen weiteren Eindruck vermittelt das von Prof. Dr. Goerd Peschken angefertigte Holzmodell, das derzeit in der Humboldt­Box zu sehen ist (Abb. 25).

Indes ließ der offene Risalit nicht nur erkennen, dass sich die Hofarchitektur bis ins Innere des Schlosskörpers fortsetzte. Wie eine offene Tempelfront bot er auch Einblick in die ihm vergegenwärtigte Götterwelt, wobei Schlüters Jupiterfigur sich durch die offene Fassade ähnlich präsentierte wie die Kultbilder in barocken Tempelarchitekturen (erwähnt seien nur Giacomo Lauros Rekonstruktion des römischen Templum virtutis et honoris oder die Darstellung antik­römischer Tempel bei Johann Bernhard Fischer von Erlach (Abb. 27).

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Eine weitere Analogie ergab sich zu den Fassaden römischer Basiliken wie S. Maria Maggiore, die gleichfalls den Blick in einen geheiligten Bereich mit der Darstellung der höchsten Gottheit freigaben. So kann man in S. Maria Maggiore durch die offenen Arkaden der Segensloggia das Mosaik erkennen, das Christus als himmlischen Weltenherrscher zeigt (Abb. 28).

Vor allem aber wurde Schlüters Treppenhaus zu einer Art riesiger Guckkastenbühne, in der die Gigantomachie wie ein Theaterstück aufgeführt wurde – mit den Mitgliedern des Hofes, die wie im richtigen Hoftheater als Akteure einbezogen waren und sich dabei als irdische Abkömmlinge der Götterwelt inszenierten (Abb. 9, 10 u. 29). Letztlich entspricht Schlüters Jupiter sogar genau den aus Holz oder Pappmaschee gefertigten Götterfiguren, die im Barock auf den realen Bühnen als „dei ex machina“ an Seilen herabgelassen wurden (Abb. 30). Schlüters Treppenhaus war somit ein wahrhaftes ‚Teatro Olimpico’, bei dem der König als irdischer Stellvertreter Jupiters auftrat, gleich dem Papst, der sich in S. Maria Maggiore von der Segensloggia aus als irdischer Stellvertreter Christi präsentierte.

Der Große Treppenhausrisalit als in Stein gegossene Staatsidee

Indes bildete Schlüters Treppenhaus nicht nur den Rahmen des brandenburgisch-preußischen Staatstheaters. Wie Schlüter den Hof als Abbild der Götterwelt inszenierte, so inszenierte er seine Architektur auch als eine stoffliche Konkretisierung einer überirdischen Wirklichkeit. Auch hier hilft der Vergleich mit der römischen Sakralarchitektur weiter.

Weitere Akteure waren die Götter­ und Helden, welche die Kolossalsäulen des Risalits bekrönten. Da sie mehr oder weniger auf der Höhe des Deckenspiegels im Treppenhaus standen, gehörten auch sie der Welt des Olymp an. Wie Schauspieler, die auf die Vorbühne treten, um mit den Zuschauern Kontakt aufzunehmen, standen sie außerhalb des Treppenhaus als Vorposten der preußischen Götterwelt.

In S. Maria Maggiore hatte Ferdinando Fuga seine Benediktionsloggia so vor die Mosaikwand gesetzt, dass sein Gewölbe als dreidimensionale Verlängerung des im Mosaik dargestellten Himmels und damit als Emanation bzw. als Materialisierung der durch Christus personifizierten göttlichen Vernunft erscheint. Analog dazu erschien das Berliner Schloss als eine Verstofflichung des durch Jupiter personifizierten preußischen Königtums. Vollstreckt wurde diese ‚Emanation’ durch Minerva (Abb. 10). Als buchstäbliche Kopfgeburt des Göttervaters war sie die Göttin der Weisheit und der Vernunft sowie die Patronin der Künste und Wissenschaften. Zunächst schuf Minerva durch den Sieg über den Giganten Pallas und seine Brüder die Voraussetzungen für die Erbauung des Schlosses, indem sie die aus unförmigen Quadern gefügte Rampe zerstörte, mit der die Riesen den Olymp hatten stürmen wollen.

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Sodann schwebte Minerva im Rittersaal als Teil einer Stuckvoute aus dem gemalten Deckenhimmel auf die Erde herab, um den Mantel des Schwarzen Adlerordens, der als Krönungsornat Friedrichs I. gedient hatte, fließend in die Säulen der Serliana übergehen zu lassen (Abb. 32). Da diese Säulen auch nach außen gespiegelt waren, wurde der Krönungsmantel zur Fassade des Portalrisalits V (Abb. 33). Auch der Schild mit der Königskrone, den Minerva gleichfalls mit sich führte, ging in der Fassadenarchitektur auf: in Gestalt der Wappenkartusche, welche die Serliana an ihrer Außenseite überfing. Selbst der vormals vergoldete Adlerfries (Abb. 33, rechts oben) an den Schulterrücklagen kann als eine Architektonisierung der Krönungsinsignien gelesen werden, paraphrasierte er doch die Kette des Schwar zen-Adler-Ordens (Abb. 35). Die Botschaft war eindeutig: Wie das preußische Königtum im Himmel gestiftet wurde, so war die Schlossarchitektur vom Himmel ordiniert. In diesem Sinne wurde der königlich-preußische Krönungsornat – unter Rückgriff auf die traditionelle Metapher von der Fassade als dem (Fest-)Gewand eines Gebäudes – um den älteren Baukörper der kurfürstlich-brandenburgischen Residenz gelegt. Zugleich nahm in Gestalt der neuen Fassaden die durch Minerva personifizierte preußische Staatsidee Gestalt an (Nationbuilding im buchstäblichen Sinne also).

Ausdrücklich wird die Göttin auf einem zeitgenössischen Stich als die Erbauerin des Schlosses bezeichnet (Abb. 36). Und nicht von ungefähr trägt sie den Namen des von ihr im Treppenhaus überwundenen Giganten Pallas. Ebenso ist es kein Zufall, dass sie vor dem Portalrisalt V abgebildet ist. Dasselbe gilt für Friedrich I. auf dem von Friedrich Wilhelm Weidemann geschaffenen Staatsporträt (Abb. 37). Weidemann zeigt den vor dem Portalrisalit V posierenden Herrscher, dem die königlichen Insignien ebenso über den kurfürstlichen Kürass gelegt sind wie der königliche Fassadenmantel um den Baukörper der alten Kurfürstenresidenz.

Indes erschöpfte sich die Bedeutung Minervas als der geistigen Erbauerin des Schlosses keineswegs in der politischen Symbolik. Als Patronin der Künste und Wissenschaften hatte die Göttin auch den Künsten eine neue Heimstatt gegeben. Das Schloss barg nämlich auch eine große Bibliothek und eine bedeutende Kunstsammlung. Außerdem erhob es in seiner Architektur und bildlichen Ausstattung den Anspruch, ein Lehrgebäude zu sein: ein Kompendium all dessen, was Rom, die Welthauptstadt der Künste, an antiker und moderner Architektur, Bildhauerei und Malerei vorzuweisen hatte.

Als Grundlage dieses Transfers von Weltkultur diente dem Berliner Hof u.a. die ‚Teutsche Akademie’, die der Maler und Kunstwissenschaftlicher Joachim von Sandrart in den 1670er Jahren publizierte hatte. Das Werk, dessen dritter Band dem damaligen Kurprinzen Friedrich Wilhelm und nachmaligen König Friedrich I. gewidmet war, enthielt eine Sammlung von Kupferstichreproduktionen bedeutender Skulpturen und Bauwerke. Einige der von Schlüter geschaffenen Skulpturen an den Hofrisaliten gehen auf Stichvorlagen bei Sandrart zurück (Abb. 38– 41).

Eine Replik auf Sandrart enthielt auch die Jupiterfigur im Treppenhaus. Sie war durch das Titelkupfer des ersten Bandes inspiriert (Abb. 42). Dieses Blatt zeigt, wie die Mächte der Zeit und der Vergänglichkeit den Göttervater, der in diesem Kontext für die antike Kultur steht, von seinem Adler stürzen. Doch haben die Musen bereits begonnen, die am Boden liegenden Zeugnisse der Antike, insbesondere Münzen und zerborstene Skulpturen, zu bergen und sie Minerva zu überbringen, damit diese sie der im Hintergrund thronenden Germania weiterreiche. Nach Sandrarts eigenen Worten soll diese Allegorie zum Ausdruck bringen, dass die antike Kultur, nachdem sie im Mittelalter zerstört und ab 1500 in Rom erneuert worden war, nun endlich auch in Deutschland eine Heimstatt finden soll. Gleichsam in Erfüllung dieses Auftrags hat Friedrich I. Sorge dafür getragen, dass Jupiter wieder auf dem Adler reitet und nun seinerseits über die Mächte der Barbarei triumphiert (Abb. 9 u. 10). Die Neubelebung der Kunst in Deutschland ist Teil der preußischen Staatsräson und auch sie konkretisiert sich im Bau des Berliner Schlosses.

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Das Verhältnis des Schlüterhofs zum Berliner Stadtraum

Zwischen dem Schlüterhof und dem Stadtraum vermittelten insgesamt fünf Portale – und zwar ikonographisch wie strukturell. Was die Ikonographie betrifft, so folgten sie alle dem Typus der Ehrenpforte bzw. des Triumphbogens.

Schon vor dem barocken Umbau des Schlosses markierte ein kleineres Triumphtor die Grenze zwischen dem Schlossbezirk und dem südlich angrenzenden Schloss platz (der sog. Stechbahn). Schlüter bezog dieses Portal in seine ersten Entwürfe ein, um es an der Südostecke zur Langen Brücke hin zu spiegeln (Abb. 43). Zusätzliche ephemere Ehrenpforten wurden errichtet, als Friedrich I., nachdem er sich in Königsberg zum König gekrönt hatte, am 6. Mai 1701 ins Berliner Schloss einzog (Abb. 44).

Die wichtigste Ehrenpforte beim Einzug war freilich der neuerbaute Risalit I, in dem Schlüter mehrere Elemente römischer Triumphbögen kombiniert hatte, etwa die gekuppelten Säulen und die Arkade (deren Archivolte später freilich durch ein gerades Gebälk ersetzt wurde). Diese Motive finden sich beispielsweise am Trajansbogen in Ancona, am Segierbogen in Pula oder am Gavierbogen in Verona (Abb. 46). Ebenso lassen sich Vorbilder für die Innenseiten der Portale II und IV finden (etwa die ehemalige Hofzufahrt des Schlosses Écouen oder die Fassade von Schloss Anet; (Abb. 48). Am offenkundigsten aufgegriffen wurde das Motiv des Triumphbogens freilich am Portal III, das eine Synthese des Konstantins- und des Septimius-Severus-Bogens in Rom darstellt (Abb. 50).

Und wie in Rom die Via Sacra durch den Konstantinsbogen zum Forum und von dort zum Tempel des kapitolinischen Jupiter führte, so sollte nach Eosanders Planung auf das Portal III und die beiden Höfe der Große Treppenhausrisalit als Heiligtum des preußischen Jupiters folgen (Abb. 5). Dessen Schauwand im Innern war gleichfalls als eine Ehrenpforte gestaltet – unter Einbeziehung des Motivs einer Loggia mit Balkon (Abb. 51). (Dass die zur Schiffslände an der Spree führende Tür nicht Bestandteil des Zeremoniells war und auch der Balkon nicht betreten wurde, ist irrelevant, da es sich hier ausschließlich um eine ikonographische Formel handelte). Jedoch betonte Schlüter die ikonographische Bindegliedfunktion seiner Portalrisalite nicht nur typologisch, sondern auch strukturell. Nach dem Vorbild römischer Prospektivarchitekturen (Durchfahrt im Palazzo Farnese, Scala Regia im Vatikan; Abb. 52) gestaltete er die drei Stockwerksordnungen in den Fassaden als Ausläufer von übereinanderstehenden Säulenkorridoren, welche die gesamten Baukörper durchzogen und überdies auch zueinander in Superposition, d.h. exakt übereinander, standen (Abb. 18, 54 u. 55). So kehrte die Folge der drei klassischen Säulenordnungen Dorisch-Ionisch-Korinthisch, welche die Mittelachsen der Stadtrisalite I und II durchzieht, an den Innenseiten der Kleinen Hofrisalite wieder, um dann in den Mittelachsen der Lustgartenrisalite IV und V erneut in Erscheinung zu treten.

Darüber hinaus liefen die dorischen Erdgeschosskolonnaden der Portalrisalite I und V entlang der Hofkanten auf den Großen Hofrisalit zu, wo sie zusammen mit den sie überfangenden Arkaden vereinten und zu einem Teil der Fassadenarchitektur wurden (Abb. 2). Zugleich setzten sie sich hinter dem Fassadenspiegel in Gestalt der Treppenhausgalerie fort, um dann zusammen mit der ionischen Säulenordnung der Galerie an der Kopfwand des Treppenhauses zu enden (Abb. 51). Analog dazu fand die korinthische Stockwerksordnung des dritten Fassadengeschosses ihren Widerhall in den Pilastern an der Stirnwand des Weißen Saals.

Letztlich bildete die Treppenhausrückwand den Endpunkt bzw. in umgekehrter Leserichtung den Ausgangspunkt einer Folge von Ehrenpforten, die über die Hoflauben und die Stockwerksordnungen miteinander verbunden waren und über diese auch Anschluss an den das Schloss umgebenden Stadtraum fanden.

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Abbildung 55 (Schlossruine 1950 Innenseite Portal I)

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Die Fortsetzung des Schlüterhofs durch die Berliner Stadtarchitektur

Über die Portalrisalite wurde das Schloss in dreifacher Hinsicht als ein Teil des Stadtraums ausgewiesen: In seiner Eigenschaft als Forum wurde es zum Nukleus der Foren, die ab 1825 durch den Ausbau der Museumsinsel entstanden. Als Stadtresidenz bildete es den Mittelpunt der Residenzstadt, die sich aus dem Zusammenwachsen der Altstädte Berlin und Cölln sowie der neuen Quartiere Friedrichs- und Dorotheenstadt bildete. Als Theater wiederum wurde es zum szenographischen Mittelpunkt einer weit ausgreifenden Stadtraum-Dramaturgie.

Was den forensischen Charakter betrifft, so zeigen zahlreiche historische Ansichten, dass der Schlüter- und der Eosanderhof tatsächlich öffentliche Bereiche und damit – wie die römischen Kaiserforen oder das Kapitol – urbane Räume waren (Abb. 57). Selbst die Treppenhäuser und die Paradekammern dürften bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hinein für die Bürger frei zugänglich gewesen sein.

Der öffentliche Charakter des Schlosses zeigte sich auch im Bau des Alten Museums, der nach Plänen Karl Friedrich Schinkels von 1825–1830 an der Nordseite des Lustgartens – und damit auf dem Terrain des Schlosses – erfolgte (Abb. 58). Nachdem das Volk in den Befreiungskriegen maßgeblich zum Sieg über Napoleon und zur Rückerstattung vom französischen Kaiser geraubter Kunstgüter beigetragen hatte und nachdem Reformer wie Gneisenau, Hardenberg, Freiherr von Stein oder die Gebrüder Humboldt zu der Einsicht gelangt waren, dass ein gebildetes Bürgertum eine wesentliche staats- und gesellschaftspolitische bedeutete, beschloss Friedrich Wilhelm III., die königlichen Kunstsammlungen, die ursprünglich im Schloss untergebracht waren, in ein gesondertes, frei zugängliches Gebäude zu übertragen – so wie vor ihm schon Friedrich der Große die königliche Bibliothek und die Hofoper in gesonderte Bauten ausgelagert hatte.

Somit war das Museum – nach der königlichen Bibliothek, der Oper Unter den Linden und dem Dom – ein zusätzlicher ‚Erweiterungsbau’ des Schlosses. Um dieser Zugehörigkeit zum Schloss Ausdruck zu verleihen, bemühte sich Schinkel, das Konzept, das Schlüter für den Schlosshof, das Große Treppenhaus und die Paradekammern entwickelt hatte, im Sinne einer verbürgerlichten Monarchie und Stadtplanung weiterzuentwickeln. Eingeleitet worden war diese Entwicklung bereits unter Carl Gotthard Langhans, der mit dem Bau des Brandenburger Tors und des alten Schauspielhauses begonnen hatte, Berlin von einem ‚Kapitol des Nordens’ (Johannes Tripps) in ein ‚Spree-Athen’ zu verwandeln. Diese Tradition fortführend, stellte Schinkel dem Forum der römischen Antike die Agora der griechischen Klassik zur Seite. Zugleich antwortete er auf Schlüters innerhöfische Treppenanlagen mit einer der Stadt zugewandten Treppe (Abb. 59 u. 60).

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In der sich dem Treppenhaus anschließenden Rotunde präsentierte Schinkel eine gräzisierte Variante des Pantheons, indem er die Säulen aus dem Verbund der Wandschale herauslöste und in die reine Gliederarchitektur einer freistehenden Kolonnade überführte (Abb. 61). Die Interkolumnien besetzte er mit Statuen, die nun keine Kopien nach Sandrart mehr waren, sondern antike Originale. Zugleich führte der Aufstieg nicht mehr in eine durch Malerei und Stuck imaginierte olympische Fabelwelt, sondern in einen durch die Kuppelarchitektur vergegenwärtigten pantheistischen Kosmos. Innerhalb dieses Kosmos suchten die Götterfiguren zum Menschen nicht mehr die theatralische Interaktion, sondern das innere Zwiegespräch.

Darüber hinaus bildete das Alte Museum den Auftakt für den Ausbau der Museumsinsel. Mit dem Neuen Museum, der Alten Nationalgalerie, dem Kaiser-Friedrich-Museum (heute Bode-Museum) und dem Pergamonmuseum wurde Schinkels Vorgabe, das Schloss weiterzubauen, aufgegriffen. Es entstand ein Ensemble, das sich als eine fortwährende Variation des Schlüterhofs deuten lässt, wobei der forensische und der museale Aspekt im Vordergrund standen. Wie in den römischen Kaiserforen (Abb. 3) ließen die Architekten dieses Ensembles, Friedrich August Stüler, Johann Heinrich Strack, Ernst von Ihne und Alfred Messel, mehrere Freiräume ineinander übergehen (Abb. 62). In der Mitte stehen jeweils Solitärbauten, die unterschiedlich ausgerichtet sind, aber durch Kolonnaden oder Seitenflügel strukturell und durch Sichtbezüge optisch miteinander verbunden bleiben. Diese Umbauungen hegen die Solitäre ein, verbinden sie aber auch miteinander, klären ihre Ausrichtung und setzen sie zum Stadtraum in Beziehung.

Indes wurde die städtebauliche Kohärenz von Schloss, Lustgarten und Museumsinsel nicht nur durch die Anordnung der Bauten erreicht, sondern auch – und hier wirkte das Vorbild der römischen Foren gleichfalls stilbildend – durch die Variation immer wiederkehrender Gestaltungselemente. Zu diesen zählten besonders die Treppen. Hatte Schinkel das Schlütersche Motiv der offenen Treppe vom Innenhof an die Platzkante verlagert (Abb. 58-60), so verlegte Stüler seine Treppe in den geschlossenen Innenraum des Neuen Museums (Abb. 63). Zugleich bekrönte er das obere Podest aber auch mit einer Replik der Korenhalle auf der Athener Akropolis, was einen Prozessionsweg im Freien assoziieren ließ. Gedanklich wurde der Innenraum wieder zu einem Außenraum. Strack hingegen entschied sich bei der Alten Nationalgalerie für eine reine Freitreppe, in deren Sockel er jedoch die Vorhalle integrierte (Abb. 64). Allen Bauten gemeinsam ist das Thema der Freitreppe, die sich auf unterschiedliche Weise mit einem Fassadenraum durchdringt.

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Und fasst man den Radius etwas weiter, so gehörten zu dem Ensemble auch die von Portiken über- oder hinterfangenen Treppen der Knobelsdorff-Oper (Abb. 76), der Hedwigskirche, der Gontardschen Dome am Gendarmenmarkt und des Schauspielhauses. Ende des 20. Jahrhunderts kam die Treppe des neuen Berliner Doms hinzu, die Raschdorff gleichfalls mit einer raumhaltigen Fassade verband (Abb. 65).

Das zweitwichtigste städtebauliche Bindeglied waren die Kolonnaden. Außer im Schlüterhof (Abb. 2) und den Portaldurchfahrten der Risalite I, II, IV und V (Abb. 54.) fanden sie sich an der Königsbrücke (Königskolonnaden von Carl von Gontard; Abb. 66), in den Kronprinzengärten (Pergolen), in den Vorhallen der (1950 abgerissenen) Börse (Abb. 67) und des Berliner Doms (Abb. 65), dem Nationaldenkmal an der Schlossfreiheit sowie am Neuen Museum und der Alten Nationalgalerie (Abb. 71 u. 108). Außerdem plante Alfred Messel, die beiden Flügel des Pergamonmuseums durch einen Säulengang zu verbinden (Abb. 69). Ähnlich übernimmt die Kolonnaden nun auch David Chipperfield in zeitgenössischer Formensprache bei seinem James Simon Bau (Abb. 70). In gewisser Weise lassen sich selbst die beiden Seitenflügel des Brandenburger Tores als Kolonnaden deuten.

Indes waren Schlüters Kolonnaden weit mehr als nur ein Leitmotiv. Sie bildeten auch die Vorlage für die Verbindung von Fassade und Stadtraum. Besonders deutlich wird dies bei den Kolonnaden des Neuen Museums und der Alten Nationalgalerie (Abb. 71). Diese folgen in ihrer Höhe nicht nur dem Säulenkorridor des Portals V, mit dem sie über die Straße ‚Am Lustgarten’ optisch verbunden waren. An der Ostseite des Neuen Museums gehen sie gleichfalls in die Gliederung der Fassade über, wobei es erneut zu einer geschossweisen Superposition der dorischen, ionischen und korinthischen Ordnung kommt (Abb. 71).

Außerdem konnten die Stockwerksordnungen – trotz der verglasten Interkolumnien – wie am Großen Hofrisalit des Schlosses als Ausläufer der inneren Treppenhausarchitektur gesehen werden (Abb. 63). Wie im Schlüterhof vermittelte die Fassade über das Element der Säule zwischen Innenraum und Stadtraum (Abb. 25). Diese Verschränkung ist heute leider nur noch bedingt gegeben, weil die Pilasterordnung mit dem Gebälk, mit der Stüler die Fassadenkolonnaden nach innen fortgesetzt hatte, dem Zweiten Weltkrieg bzw. Chipperfields Ästhetik der reinen Ziegelwand zum Opfer gefallen ist (Abb. 72). Die Wand wurde vom verbindenden zum trennenden Element.

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Ein weiteres Motiv urbaner Ensemblebildung war die aufgesockelte Kolossalordnung, die Schlüter am Portal I intoniert hatte (Abb. 43) und die am Zwillingsportal II sowie an der Lustgartenfront des Alten Museums (Abb. 58), den Risaliten der Königlichen Bibliothek (Abb. 74), des Prinz-Heinrich-Palais (Abb. 75), der Börse (Abb. 67) sowie an der Längsseite der Hofoper wiederkehrte. Eine Variante hierzu bildete die übergiebelte Portikus, die an Zeughaus (Abb. 77), Hedwigskirche, Opernhaus (Abb. 76), Brandenburger Tor (Seitenflügel) Neuer Wache (Abb. 78), Alter Nationalgalerie (Abb. 64), Marstall (Abb. 104), Dom (Abb. 65), Staatsbibliothek (Abb. 79), Bode-Museum und Pergamonmuseum Verwendung fand (Abb. 69). Aber auch kleinere Architekturmotive ergaben eine Art roten Faden: Die schon erwähnte Superposition der Säulenordnung einschließlich der Serliana (Innenseiten der Portale II und IV; Abb. 84) fanden sich auch an Bauten der Schlossfreiheit wieder, die einfache Serliana wurde u.a. an der Kommandantur und am Dom wiederholt.

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Eine weitere Beziehung zwischen Schloss und Stadtraum ergab sich durch etliche Sichtachsen. Wie wichtig diese Sichtachsen waren, zeigt erneut das Alte Museum (Abb. 58). Als Schinkel die Fassade mit einer Kolonnade ausstattete, die unter Einbeziehung des Erdgeschosses als eines Podiums die gesamte Gebäudehöhe einnimmt, sah er sich dem Vorwurf ausgesetzt, er habe sich über den dreigeschossigen Aufbau des Inneren, der an den anderen drei Außenseiten des Gebäudes ja deutlich ablesbar sei, hinweggesetzt. Schinkel rechtfertigte sich mit dem Hinweis, er habe dies mit Rücksicht auf die Proportionen des Schlosses getan. Doch wie ist dies zu verstehen? Die Gliederung der dem Museum gegenüberliegenden Lustgartenseite (Abb. 33) übergreift keineswegs die gesamte Fassadenhöhe, kommt als Maßstab also nicht in Frage.

Sinn ergibt Schinkels Aussage nur, wenn man sie auf die stadtseitigen Portalrisalite I und II bezieht, wo das Erdgeschoss gleichfalls den Sockel einer bis zum Kranzgesims hinaufreichende Kolossalordnung bildet (Abb. 43 u. 98). Doch wie konnte diese Beziehung hergestellt werden? Möglich war dies nur, wenn man das Museum als den Teil einer Sichtachse begriff, die in Verlängerung der Breiten Straße durch das Portal II und den Eosanderhof führte – eine Sichtbeziehung, die dank Franco Stellas neuer Passage sogar noch deutlicher erfahrbar wird als vor dem Krieg (Abb. 84). Ganz im Sinne des von Schlüter vorgegebenen tiefenräumlichen Denkens endete diese Achse im hintersten Raum des Museums, wo die Statue des ‚Betenden Knaben’ den Point de vue bildete und mit ihrem nach oben gerichteten Gesicht den Blick zurück in die Himmelskuppel der Rotunde lenkte (Abb. 61).

Schinkels Idee, Sichtachsen zu schaffen, die den Baukörper des Schlosses durchdrangen, wurde von Stüler und Strack beim Bau der Alten Nationalgalerie aufgegriffen. Nun paraphrasierte die Architektur des Podiumstempels den Portalrisalit I, in dessen Achse sie lag (Abb. 43 u. 64). Im Untergeschoss führte diese Achse durch die Vorhalle und die innere Treppe bis zu der Nische, in der heute Johann Gottfried Schadows Prinzessinnengruppe steht. Im Obergeschoss kehrt sich die Blickrichtung wie in Schinkels Museum um. Nun führt der Blick vom oberen Treppenpodest über die im Freien stehende Reiterfigur Friedrich Wilhelms IV. zum Portal V zurück.

Dieses Portal war freilich schon im 18. Jahrhundert zum Endpunkt einer städtischen Blickachse geworden, nämlich der Straße Unter den Linden, deren Entrée der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor bildet (Abb. 87).

Schon vor Schinkel hatte Langhans mit dem Brandenburger Tor, das den Propyläen der Athener Akropolis nachempfunden ist, eine stilistische Antithese zum barocken Schloss, genauer: zu Eosanders römischen Triumphbogen in Portal III, geschaffen (Abb. Seite 8). Mit dem Abbruch der Häuserzeile auf der Schlossfreiheit in den 1890er Jahren wurde diese Antithese noch sinnfälliger. Außerdem wurde sie durch den Neubau des Doms verstärkt, dessen Hauptportal die Idee des römischen Triumphbogen ins Gigantische steigert (Abb. 65).

Freilich wäre es zu kurz gegriffen, die Sichtachsen ausschließlich unter ästhetischen oder stadtkompositorischen Gesichtspunkten zu deuten. Denn natürlich dienten sie auch dazu, den Stadtraum politisch auf das Schloss zu beziehen. Letzteres galt, wie schon gesagt, vor allem für die Altstädte Berlin und Cölln, aber auch für die barocken Stadterweiterungen im Westen: die Friedrich­ und die Dorotheenstadt, die über die Straße Unter den Linden mit dem Schloss verbunden waren.

Von der Königsbrücke mit den Gontardschen Königskolonnaden als Stadtmarke ausgehend (Abb. 66), führte die Berliner Königsstraße durch die gesamte Altstadt bis zur Langen Brücke, die ihrerseits den Übergang zum Schlossplatz bildete, wobei die Reiterfigur des Großen Kurfürsten den Blick auf den Risalit I lenkte (Abb. 89). Den Weg säumte das Berliner Rathaus, das auf diese Weise wie die gesamte Berliner Altstadt mit dem Schloss verbunden war.

In Analogie dazu verlief vom Cöllner Rathaus die Breite Straße zum Portal II (und von dort weiter bis ins Alte Museum; Abb. 90). Der etwas westlich gelegene Petriplatz, der zentrale Platz des mittelalterlichen Cölln mit der Petrikirche, war dagegen über die Brüderstraße mit der Schlossfreiheit vor dem Portal III verbunden. Verstärkt wurde die Anbindung Cöllns an das Schloss, als zu Beginn des 18. Jahrhunderts Rathaus und Petrikirche neu erbaut wurden. Nach 1717 stattete Johann Friedrich Grael die Petrikirche mit einer repräsentativen Portikus aus, deren aufgesockelte Säulenpaare sich als eine Replik der Portale I und II lesen ließen (Abb. 92). Der Hofbaumeister (!) Martin Grünberg wiederum zitierte am Cöllner Rathaus (Abb. 93), dessen Grundsteinlegung 1710 auf Befehl Friedrichs I. erfolgt war, die nördliche Schulterrücklage, die Eosander zwischen die beiden Schlosshöfe gesetzt hatte (Abb. 94): Er übernahm von Eosander die Rustizierung der Kanten, die übergiebelten Hauptgeschossfenster samt Mezzaningeschoss sowie den Segmentbogengiebel mit Wappenkartusche (im Schloss war die Kartusche freilich nur als unbearbeitete Bosse vorhanden).

Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass das Berliner Schloss in seiner Eigenschaft als Residenz mit dem Cöllner und dem Berliner Rathaus, als ein Forum der Künste mit dem Alten Museum und der Alten Nationalgalerie, als Sitz eines von Gott gekürten Königs mit dem Dom und der Petrikirche und als Quartier eines die Truppen kommandierenden Herrschers mit dem Brandenburger Tor korrespondierte. Dabei fungierten die Portale gleichermaßen als festliche Entrées wie als Verstärker und Knotenpunkte der Sichtachsen.

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Kommen wir nun zum Ausbau des Schlüterschen Schloss­Theaters zum Mittelpunkt einer szenografisch gestalteten städtischen Bühne: Seit der Renaissance war die Vorstellung, das Theater sei eine Stadt im Kleinen und die Stadt ein Theater im Großen, ein fester Topos. Schon die Maler des Quattrocento hatten die Veduten ihrer Idealstädte wie Bühnenbilder arrangiert, während Palladio im Gegenzug die Kulissen seines Teatro Olimpico als eine Stadt gestaltet hatte (Abb. 16). Auch das barocke Rom verstand sich, wie wir schon sahen, als ein großes städtisches Theater (Abb. 11 u. 12).

Doch auch der Berliner Stadtraum besaß ein hohes szenographisches Potential, das Schlüter nicht nur mittels der eben beschriebenen Sichtachsen auszuschöpfen ge dachte. Wie der von Jean-Baptiste Broebes gestochene Idealplan zeigt, wollte Schlüter den südlichen Schlossbereich nach dem Vorbild von gleich vier Stadträumen umgestalten: der Piazza di San Marco in Venedig, dem Petersplatz und der Piazza Navona in Rom sowie der Place vor dem Collège des Quatre Nations in Paris (Abb. 95).

Nicht weniger als Schlüter maß Schinkel dem Stadtraum theatralische Qualitäten bei. Geradezu programmatisch war das Bühnenbild, das er für die Einweihung seines Schauspielhauses entwarf. Das Publikum sah den Gendarmenmarkt mit dem Schauspielhaus, in dem es sich gerade befand. Die Stadt wurde zum Theater im Theater, während im Gegenzug der Zuschauerraum als eine Stadt in der Stadt erschien.

Innerhalb des bebauten Stadtraums inszenierte Schinkel die Verschränkung von Stadt und Theater anders. Beispielsweise nutzte er die Treppengalerie des Alten Museums als eine Aussichtsplattform auf den Lustgarten mit dem Schloss (Abb. 59). Auf dieser Plattform sollten die Besucher nicht nur würdevoll wandeln und die Freskenzyklen bestaunen; sie waren auch gehalten, einen Blick über das Geländer zu werfen (Abb. 60). Andernorts, etwa in Schloss Glienicke, bezeichnete Schinkel solche baulichen Situationen als ‚Neugierde’.

Abbildung 102

Abbildung 103

Abbildung 104

Abbildung 105

Abbildung 108

Die Möblierung und Bespielung der urbanen Szenographie

Ein weiteres Charakteristikum der Schlüterschen und dann auch der Schinkelschen Stadtplanung war die Möblierung mit Denkmälern, deren Figuren sowohl in einer ikonographischen Beziehung als auch in einer szenographischen Interaktion zu den Fassaden standen.

Der Große Kurfürst auf der Langen Brücke wurde zum Zeugen, wie sein Sohn Friedrich I. nach vollzogener Krönung zum König von Alt-Berlin aus ins Schloss einzog (Abb. 89). Wie schon gesagt, lenkte er die durch die Königs straße vorgegebene Sichtachse auf den Portalrisalit I um. Des ungeachtet sah Schinkel für den Schlossplatz vor dem Portal II einen Borussia-Brunnen vor, in dem die Sichtachsen der Königsstraße und der Breiten Straße zusammenlaufen sollten. Das damals nicht verwirklichte Vorhaben wurde später von Reinhold Begas in Gestalt des Neptunbrunnens umgesetzt (Abb. 98).

Im Lustgarten wiederum plante Schinkel ein Reiterdenkmal für Friedrich Wilhelm III., das allerdings erst 1870/1871 von Albert Wolff verwirklicht wurde (Abb. 99). Im Rücken das Alte Museum, dessen Friesinschrift ihn als Erbauer feierte, ritt Friedrich Wilhelm auf Portal IV zu. Die Funktion des Portals als einer Ehrenpforte wurde auf diese Weise noch sinnfälliger. Dasselbe galt für Portal V., nachdem in den 1880er Jahren auf der Freitreppe der Alten Nationalgalerie das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms IV. von Gustav Blaeser Aufstellung gefunden hatte (Abb. 100). Jedoch war Friedrich Wilhelm IV. nicht nur auf das Schloss ausgerichtet, sondern er bildete auch den Point de Vue von Stülers Treppe im Neuen Museum. Im Gegenzug wiesen die seitlichen Treppenläufe der Alten Nationalgalerie gen Stülers Treppenhausrisalit.

Ergänzt wurde die figürliche Ausstattung des Lustgartens durch die Rossebändiger- und Tierkampfgruppen, welche die Einfahrt vor Portal IV sowie die Treppenwangen des Alten Museums zierten. Die Rossebändiger (Abb. 102) kommunizierten mit den Dioskuren auf dem Alten Museum (Abb. 103) sowie mit den Rossebändigern im Treppenhaus des Neuen Museums und auf dem Dach des Marstalls (Abb. 63 u. 104). Die Tierkampfgruppen wiederum (Abb. 105) waren thematisch mit der Figur des Heiligen Georg im Eosanderhof assoziiert.

Zwei weitere Akteure auf dem urbanen Tableau waren die Reiterstandbilder Kaiser Friedrichs III. vor dem nach ihm benannten Museum (heute Bode-Museum) sowie Friedrichs des Großen. Letzteres war von Christian Daniel Rauch für die Straße Unter den Linden gegossen und 1851 enthüllt worden. Rauchs Figur war wie das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms IV. auf Portal V ausgerichtet, stand zugleich aber auch in Beziehung zu den Rossebändigern von Portal IV (Abb. 102).

Den unüberbietbaren Höhepunkt der Stadtraumdramaturgie bildete freilich das Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal auf der Schlossfreiheit. Die in den Mühlengraben ausgreifenden Kolonnaden Gustav Halmhubers übertrugen in ihrem Verlauf nicht nur den Grundriss von Eosanders Risalit in den Stadtraum hinein, sie bildeten auch eine Bühne für den triumphalen Einzug des Kaisers, dessen Ross von einer Viktoria am Zügel geführt wurde (Abb. 108). Noch deutlicher als bei den Portalen der Lustgartenfront wurde hier die barocke Triumphbogen-Ikonographie aufgerufen. Zugleich wurde die Westseite des Schlosses aber auch zu einer Scenae frons für das Stadtgebiet des Friedrichswerder aufgewertet.

Eine nicht zu unterschätzende Rolle neben den Reiterdenkmälern, die zusammen eine Genealogie des Hauses Hohenzollern ergaben, spielte der Figurenschmuck der Fassaden.

Dass die Adler-Akrotere des Alten Museum (Abb. 103) Schlüters Adlerfries am Schloss (Abb. 33) antworten und die Dioskuren der Attika ihre Entsprechung in den Rossebändigern der Schlossterrasse, des Neuen Museums und des Marstalls finden, ist offensichtlich (Abb. 103, 63 u. 104).

Abbildung 111

Abbildung 112

Abbildung 113

Abbildung 114

Abbildung 115

Abbildung 117

Nicht akzeptierter Entwurf des Wettbewerbs für das Einheits- und Freiheitsdenkmal. So oder ähnlich kann man sich nun, nach dem Scheitern des Denkmals, durchaus die Gestaltung des Sockels des ehemaligen Nationaldenkmals vorstellen

Doch auch die Wappen haltenden und Fanfare blasenden Genien an den Portalrisalten III, IV und V (Abb. 33) sowie an der Eckkartusche der Lustgartenfront (Abb. 111) und an den Risaliten des Eosanderhofs (Abb. 84), kehrten in der Umgebung des Schlosses wieder: in den Famen des Zeughauses (Abb. 112), den Wappenhaltern der Kaiser-Wilhelm-Brücke oder in den zum Jüngsten Gericht rufenden Engeln der Domkuppel (Abb. 113).

Bisweilen wurde der Mensch aber auch zum Teil eines Figurenensembles, etwa am Nationaldenkmal, an dem Begas seine Figuren ganz bewusst nicht nur auf Sockeln und Kranzgesimsen, sondern auch auf Treppenstufen platzierte (Abb. 114). Die Wirkung, die entstand, wenn etwa ein bürgerlicher Passant sich zwischen den Beinen des riesenhaften Kriegsgottes niederließ, war wohl durchaus gewollt – im Sinne einer das Pathos relativierenden Selbstironisierung.

Besonders aussagekräftig ist auch der Stich, der die Kämpfe am 18. März 1848 dokumentiert (Abb. 115). Im buchstäblichen Sinne von Re-‚volution’ wurde die Dramaturgie des Stadtraums um-‚gekehrt’. Die Breite Straße, deren Sinn es war, die Cöllner Altstadt an das Residenzschloss zu binden, wurde vom Volk (griech. = Demos) in Besitz genommen. Die Demokraten errichteten vor dem Rathaus eine Barrikade und brachten schwarz-rot-goldene Fahnen gegen den Portalrisalit II in Stellung. An einem ausdruckstärkeren Ort hätte der Freiheitskampf nicht stattfinden können.

Agierte die Volkserhebung von 1848 noch innerhalb der städtebau lichen Semiotik, so begann schon der Nationalsozialismus, diese zu negieren. 1935/1936 verwandelte sich der Lustgarten zum Aufmarschplatz für Maidemonstrationen. Die Bepflanzung wich einer einheitlichen Pflasterung, das Denkmal Friedrich Wilhelms III. wurde an die Seite gedrängt. Schinkels Museum sank zur Staffage herab. Noch mehr Aufmarschfläche für seine Maidemonstrationen benötigte der Stalinismus. Nun mussten das Schloss samt Nationaldenkmal sowie die gesamte Berliner Altstadt weichen. Um das Regime in Szene zu setzen, bedurfte es keiner Stadtarchitektur mehr.

Ausblick

Bildlich gesprochen war das Berliner Schloss das Herz Berlins. Schlüters Jupiter- und Gigantentreppe bildete gleichsam die Herzkammer, die über den Großen Risalit mit dem Schlosshof als dem ‚Vorhof’ verbunden war. Die der Stadt zugewandten Außenfronten glichen der Herzmuskelschicht, wobei die von den Portalen ausgehenden Sicht- und Wegachsen den Venen und Arterien entsprachen, die innerhalb des Stadtkörpers die Schlüsselbauten wie Organe an den Blutkreislauf anschlossen. Die unmittelbare Einfassung des Schlosses, also die Schlossterrassen am Lustgarten, das Nationaldenkmal und der südliche Schlossplatz mit dem Neptunbrunnen entsprachen schließlich dem Herzbeutel, dessen Gleitschicht dem Herzmuskel die nötige Bewegungsfreiheit sichert.

Mit der Wiedererstehung der barocken Außenfassaden, dem Schlüterhof und der Kuppel wird die größte Wunde innerhalb des städtischen Organismus geschlossen. Doch wie kann das Herz dazu gebracht werden, wieder zu schlagen? Die urbanen Adern und Nervenbahnen wieder zu versorgen, das kulturelle Gedächtnis der Stadt wieder zu aktivieren? Die Wiedererstehung des Schlosses verlangt also auch nach einer weiterführenden Heilung des Stadtraums.

Wird die Brüderstraße wieder so gefasst, dass sie als Sichtachse auf das Schloss bezogen werden kann? Dass Franco Stellas großartige Passage noch stärker als das Bindeglied zwischen dem historischen Zentrum Cöllns und Schinkels Museum erlebbar wird?

Was geschieht mit der Fläche des ehemaligen Nationaldenkmals? Dass eine große begehbare Schale nicht dieselbe Bindegliedfunktion erfüllen kann wie eine von Kolonnaden gefasste Skulptur, liegt auf der Hand. Wäre es vielleicht möglich, die alten Kolonnaden in zeitgenössischer Formensprache wiedererstehen zu lassen – als eine reine Architektur, die mit Chipperfields Kolonnaden am Neuen Museum kommuniziert und die zugleich die Kurvatur von Eosanders Portal III aufgreift (Abb. 118)? Wie lässt sich Franco Stellas Ostfassade des Humboldt Forums wirkungsvoller, als dies bislang geplant ist, zum Spreeufer in Beziehung setzen? Kann nicht nach dem Vorbild barocker Uferbebauungen (Abb. 117) eine Situation geschaffen werden, in der zum Fluss führende Treppen einen Ort schaffen, der nicht nur hohe Aufenthaltsqualität hat, sondern auch der Fassade eine szenographische Wirkung verleiht? Und was wird aus der Berliner Altstadt?

Was spricht dagegen, die Figurengruppe des Heiligen Georg an ihren alten Standort zurückzuversetzen? Sie würde der neuen Agora des Humboldt Forums eine bessere theatralische Qualität verleihen als der derzeit geplante Informationsturm. Und sie könnte den umlaufenden Galerien jenen Logencharakter geben, den einst Schlüters Hoflauben besaßen.

Und schließlich: Was geschieht mit den historischen Innenräumen des Schlosses, ohne die, wie wir gesehen haben, das Äußere nur eine Hülle bleibt? Wann erhält der Große Treppenhausrisalit, der mit Glasfenstern nicht mehr sein kann als eine große Vitrine, wieder jene weltweit einmalige Szenographie zurück, bei der die Fassaden sich im offenen Treppenhaus fortsetzen? Die Erfüllung einiger dieser Desiderate ist ohne Weiteres möglich, anderes ist Zukunftsmusik. Doch ergibt der Aufbau des Berliner Schlosses als Humboldt Forum nur Sinn, wenn dieses Forum wirklich ganz Teil der Stadt geworden ist. Letztlich gilt: Erst wenn Schlüters Jupiter wieder auf dem Adler reitet, ist der Wiederaufbau des Schlosses, ist der Wiederaufbau Berlins wirklich abgeschlossen.

Prof. Dr. Peter Stephan lehrt Architekturtherorie an der Fachhochschule Potsdam/Potsdam School of Architecture und Kunstgeschichte an der Universität Freiburg i. Br. Von ihm liegen mehrere Publikationen über das Berliner Schloss vor.

7 Kommentare zu “Das Schloss lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloss

  1. Das ist wohl im wesentlichen der Vortrag, den der Verfasser auf der diesjährigen Jahresversammlung des Fördervereins gehalten hat — da mit dem (meiner Meinung nach) geeigneterem Titel „Der Schlüterhof als Mittelpunkt des Berliner Stadtraums“. Die in diesem Titel genannte Betrachtung führt (wie im Artikel erklärt) zu der Empfehlung eines Wiederaufbaus der Kolonaden am Platz des zerstörten National-Denkmals. Diese Kolonaden  würden (besonders in ursprünglicher Gestalt) das  Hauptportal des Schlosses in bester Weise ergänzen.

  2. Machen Sie diese Zusammenhänge mal der Senatsbaudirektorin Lüscher, dem Bausenator Geisel, der Kulturdezernentin des Bundes Frau Grütters, dem Baustadtrat Mitte Herrn Spallek und den Beamten in der Verwaltung sowie den Freiflächenbefürwortern von der Linken in Personae Lompscher, Bluhm und Flierl klar.Letztere haben die Stadtdebatte mit den 10 „Bürgerleitlinien“ zum Ergebnis der Nichtbebauung gesteuert…und sämtliche Abgeordnete haben fraktionsübergreifend zugestimmt !  Wo bleibt der Sturm der Entrüstung ? wo bleiben die Unterschriften für die Petition von 4 Historie-und Bürgervereinen „Für eine schöne Berliner Historische Mitte“ ?  Kann man nachholen über http://www.berliner-historische-mitte.de

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