Aber selbstverständlich, behauptet eine Ausstellung über historische Bauten in der Münchener Pinakothek der Moderne
von Dankwart Guratzsch
In vier Sälen und zehn Abteilungen fächert das Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne die „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ auf. Es ist die größte Ausstellung, die je einer der anstößigsten Fragen jüngerer Kunstgeschichte gewidmet wurde: Wie soll man mit historischen Bauten umgehen? 85 Fallbeispiele sowie weitere 200 Rekonstruktionen von Japan bis Kanada und von der griechischen Antike bis heute werden vorgestellt, analysiert und kommentiert. Allein das Begleitbuch mit 16 Aufsätzen renommierter Wissenschaftler und einem umfangreichen Katalogteil ist ein Kompendium von beträchtlichem Gewicht. Und das alles für ein Thema, das vielen in der Kunstwissenschaft als obsolet gilt?
Dieser Einschätzung wird allerdings der Boden entzogen, sobald man die Ausstellung betritt. Die Säle sind gut besucht, nicht von Greisen und Nostalgikern, sondern von einem durchaus jugendlichen Publikum. Es ist eine Gegenwelt zum offiziellen Kulturbetrieb, die hier lockt: das in den Augen der Planungs- und Architekturideologie Unerlaubte, Unmoralische scheint eine magische Anziehungskraft zu entfalten.
Der Kunsthistoriker Georg Dehio, der vor einhundert Jahren einen neuen Begriff der Denkmalpflege geprägt hatte, dreht sich im Grabe herum. Die „Masken und Gespenster“, vor denen er gewarnt und die er gegeißelt hatte, sind wiederauferstanden. Und sie sind so populär wie nie. In immer mehr Städten verlangen die Bürger die Wiedererrichtung untergegangener Gebäude, ganzer Straßenzüge und Plätze. Es ist eine anwachsende Oppositionsbewegung gegen „die“ Architekten, die angeblich die Städte verschandeln, gegen die „Willkür“ von Planungsämtern, gegen das Banausentum von Investoren, die ohne Respekt vor der Geschichte und Identität mehr Bausubstanz vernichtet haben als der Krieg.
Aber darf man Gebäude, die verschwunden sind, kopieren? Darf man die Frauenkirche in Dresden, die Schlösser in Berlin, Braunschweig, Potsdam wiederaufbauen, darf man ein Rathaus wie in Wesel, ein Zunfthaus wie in Hildesheim, eine ganze „Altstadt“, wie in Frankfurt am Main einfach so wieder auferstehen lassen, wie sie einmal ausgesehen haben? Seit den Auftritten des Historikers Dehio vor dem Kaiser und auf Kunsthistoriker- und Denkmalpflegertagen vor einhundert Jahren wird – völlig ergebnislos – genau über diese Frage mit einer Unerbittlichkeit gekämpft, die für ein Fach, das sich einmal auf das Schöne, Wahre, Gute berufen hatte, rational kaum noch nachvollziehbar erscheint.
Diese Vorgeschichte muss man sich vergegenwärtigen, um die Provokation zu verstehen, die in der Münchner Ausstellung liegt. Dehio, Hochschullehrer aus Straßburg, war der erste, der mit moralischen Begriffen operiert und die Anhänger des architektonischen Historismus als Lügner und Fälscher attackiert hatte. Auf dieser Spur sind ihm Denkmalpfleger, Architekten und Planer bis heute gefolgt. Sie haben die Argumente noch zugespitzt. Ein Wiederaufbau von Gebäuden in alter Form sei mindestens ein „Verbrechen“.
Den Frankfurtern, die Goethes Geburtshaus wiedererrichten wollten, wurde unterstellt, das Naziunrecht ungeschehen machen zu wollen. Der Publizist Walter Dirks verstieg sich zu der Anklage, Goethe selbst sei mitverantwortlich für die geschichtliche Katastrophe, die auch durch den Geist seiner Werke mit heraufbeschworen worden sei. Deshalb, so Dirks mit der Attitüde eines Scharfrichters, habe es „seine Richtigkeit“, dass auch sein Haus für immer vernichtet sei.
Die Anhänger der Rekonstruktionen wurden durch diese Angriffe jedoch nicht entwaffnet. Sondern auch sie haben sich eher noch radikalisiert. Längst ist nicht mehr vom Bauen in historischen Stilen, sondern von akribischer Wiederholung und „Neuaufführung“ des zugrundegegangenen Bautenbestandes nach alter Partitur die Rede. Wie in der Klassischen Musik, wo die Aufführung von Barockwerken mit Originalinstrumenten der alten Zeit propagiert und gepflegt wird, wird auf Rekonstruktionsbaustellen vielfach wieder mit alten Baumaterialien und nach traditionellen Handwerkstechniken gearbeitet. Für den naheligenden Spott ihrer Gegner – „da müsst ihr aber auch wieder das Plumpsklo wiedereinbauen“ – haben die Rekonstruktivisten lediglich ein mitleidiges Achselzucken übrig.
Gegenüber dem Generalverdacht, Rekonstruktionen seien „Fakes“, Maskerade, Verbrechen, holt die Münchner Ausstellung zu einem Gegenschlag aus. Mit einem für einen Ausstellungsmacher sicher nicht selbstverständlichen Ton erwidert Winfried Nerdinger, der Museumsdirektor, Professor für Geschichte der Architektur und Baukonstruktion und – was hier wichtig ist – außerordentliches Mitglied im Bund Deutscher Architekten (BDA), mit schneidender Schärfe: „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge. Über Jahrhunderte basierte die Ausbildung von Künstlern und Architekten auf dem Kopieren von Mustern und Vorlagen und die Entwicklung von Kunst und Architektur vollzog sich über Nachahmung, Anpassung, Zitat und Wiederholung.“
Für diesen neuen Ton liefert die materialstrotzende Ausstellung die Einzelnachweise und schafft so eine neue Ausgangslage für die Diskussion. Der Vorwurf der Geschichtslüge gegenüber allen Rekonstruktionsprojekten fällt nun selbst in sich zusammen. Die von Denkmalpflegern hochgelobte Instandsetzung der Alten Pinakothek in München zum Beispiel durch Hans Döllgast wird ihrerseits als Denkmalfledderei entlarvt. Wie Gottfried Böhm in Saarbrücken hat auch der Münchner seiner – wie sich nun herausstellt – eitlen Konzeption eines vermeintlich denkmalgerechten Wiederaufbaus wichtige Teile des Originalbauwerks von Klenze geopfert. Auch das jüngste Beispiel einer als denkmalpflegerisch korrekt propagierten Überformung einer Kriegsruine, die „Bearbeitung“ durch von Stühlers Neuem Museum in Berlin durch den Briten David Chipperfield, stellt sich als Willkürakt dar. Um sämtliche Eingriffe und die sich zum Teil diametral unterscheidenden Einzelentscheidungen des Architekten ansatzweise nachvollziehen zu können, benötigte der Besucher einen Spezialführer für jeden einzelnen Raum.
Was der Brite den Anhängern einer originalgetreuen Rekonstruktion entgegengehalten hatte, sie sähen „Geschichte als Hollywoodfilm“, fällt nun auf ihn selbst, auf die poppige Uminterpretation eines Ausnahmebauwerks, zurück.
Schafft die Ausstellung vielleicht auch „Waffengleichheit“ zwischen Anhängern und Gegnern der „Kopie“, so bleibt sie die Antwort auf die wichtigste Frage schuldig: Wie kommt es zu der Leidenschaft, die dieses Thema heute weckt? Warum erlebt die Rekonstruktion von Dresden bis Wesel, von Magdeburg bis Nürnberg eine nie gekannte Hausse? So viele Erklärungsversuche es dazu in jüngster Zeit von Architekten, Denkmalpflegern, Kunsthistorikern, Kunstakademien und Philosophen gegeben hat – keine konnte sich durchsetzen. Nur eines scheint gewiss: Wer von den Architekten verlangt, „zeitgenössisch“ zu bauen, wird an diesem zutiefst zeitgenössischen Phänomen nicht vorbeisehen können. Nie erschien so plausibel, was der französische Historiker Philosoph Jacques de Goff schon 1977 ausgesprochen hat und was als Sinnspruch an der Wand der Münchner Ausstellung prangt: „Modernität kann im Gewande der Vergangenheit hervortreten. Das ist eigentümlich für alle Renaissancen.“
Die Welt, 4.8.2010