Die Welt des Andrea Palladio

Die Welt des Andrea Palladio

Heute ist der 500. Geburtstag des Renaissance-Baumeisters. Es gratuliert der moderne Klassizist Leon Krier

Andrea Palladio ist für mich der letzte und vollkommenste der großen Baumeister der Renaissance. Wiewohl weniger begabt als Michelangelo, Raffael, San Michele oder Romano, gelangte sein Werk zu größerer Reife, ist fast völlig frei von den modischen Manierismen seiner Meister und Zeitgenossen. In seinem 72 Jahre währenden Leben baute er Brücken, Villen, Paläste, Kirchen, allesamt in und um Venedig und Vicenza. Er stammte aus bescheidenem Milieu, und seine außerordentlichen Begabungen führten ihn vom Baulehrling zu prestigiösen Aufträgen und Zeit seines Lebens zu höchster akademischer Anerkennung, zum Weltruhm. Mit dem Kloster San Giorgio Maggiore, gegenüber dem Dogenpalast in Venedig, sowie der Basilika und der Villa Rotonda in Vicenza lieferte er drei unbestrittene Meisterwerke der Weltarchitektur. Seine am Lebensabend publizierten „Quattro Libri dell’Architettura“, die Summe seiner theoretischen und realisierten Arbeiten, sicherten seinem Werk eine globale Ausstrahlung, beispiellosen Erfolg und Einfluss, der über 400 Jahre anhält und noch große Tage vor sich hat.

Andrea Palladio ist ohne Zweifel der Baumeister, der auf die Weltarchitektur am dauerhaftesten und einschneidensten eingewirkt hat – und das auf allen Kontinenten. Es sind weltweit mehr von Palladio beeinflusste Villen im Bau als solche von Le Corbusier inspirierte. Nach Dekaden modernistischer Ächtung gibt es in allen Weltteilen wieder Architektur-Professoren, ja Lehrstühle, welche Palladio nicht nur als eine Figur der Architekturgeschichte behandeln, sondern ihre Bautechnik- und Kompositionslehre aus Palladios Prinzipien ableiten. Wir feiern also an diesem 500. Geburtstag Palladios nicht so sehr eine tote, sondern eine höchst lebendige und moderne Kultur-Figur.

Bei überragenden Meistern wie Palladio drängen sich zwei große Fragestellungen auf: „Was wäre unsere Welt ohne Palladio und seinen Einfluss?“ Und weiter: „Wie stünde es um unsere Umwelt, wenn Palladios Lehre zum Prinzip eines allgemeinen Gesetzes erhoben würde?“ Was macht seinen Erfolg, seine Ausstrahlung und schlussendlich seine universelle Gültigkeit aus? Während seiner Italien-Reise äußerte sich Goethe stutzig über Palladios Manier, monumentale Säulen-Ordnungen vor mehrgeschossige Wohnpaläste zu montieren, gar Tempelfronten an Villen-Fassaden zu applizieren (im Falle der Villa Rotonda gleich in alle vier Himmelsrichtungen weisend). Seine unterstellte Frage lautet: „Wie sollen denn Öffentlichkeit und Sakrales sich repräsentieren, wenn das Monumentale an häuslicher Architektur verschwendet wird?“ Die babylonische Sprachverwirrung, die sich hier ankündigt, das war wohl Goethes Befürchtung, würde am Ende alles in ihren Sog ziehen. Sie wurde dann vollends zum System, als im 19. Jahrhundert Fabrikhallen sich als Kathedralen verkleideten, Moscheen sich als technische Anlagen oder Spielkasinos entpuppen, als Massenbehausungen wie Schlossanlagen paradierten.

Der Überdruss an diesem stilistischen Überschwang folgte bald. Auf die Historismus-Bulimie musste notgedrungen die Modernismus-Anorexie folgen, die kahlen Wohn- und Schlafmaschinen auf die Fabrik-Schlösser und Kauf-Kathedralen. Im Frankreich-Feldzug hatte Goethe notiert, dass gerade die leisesten Vorläufer einer einbrechenden Katastrophe am schrillsten sich hervortun, dass hingegen die Verwirrungen innerhalb einer massiven Konvulsion schnell als Normalität hingenommen werden. War Palladio demnach schon auf dem Weg nach Las Vegas? Auf dem Weg zur Kitsch-Kultur, zur Auflösung aller Werte? Vielleicht gibt die Patina der Jahrhunderte seinen Bauten eine Eigentümlichkeit, eine Rustizität, die weder ihrer Natur noch ihrer Bestimmung entsprechen. In der Tat muss man sich die Fassaden und Säulen von Palladios Villen denn auch als blitzblanke Neuprodukte von höchst mechanischer Präzision vorstellen. In ihrer ursprünglichen Erscheinung, ihrer hochpolierten Stucco-Lustro-Haut sind sie der glatten Perfektion eines modernen Flugzeugs oder Autos verwandter als der Ästhetik handwerklicher Kunstobjekte.

So war es auch nicht der romantische Aspekt der Ruinen, der Palladio interessierte. Seine zahlreichen Zeichnungen antik-römischer Vorbilder zeigen nicht den Verfallszustand, sondern immer und allein seine akribische Rekonstruktion. Palladio lag nicht an der Körperhaftigkeit des Fragments, sondern des Ganzen. Als Klassiker war er ein Rationalist und Techniker.

Den höchsten künstlerischen Ausdruck erreicht er nicht durch das Kumulieren von Superlativen, sondern durch das Kontrastieren von Vertikalen mit Horizontalen, von modulierten mit glatten Oberflächen, von Transparenz und Opazität, von hochornamentierten monumentalen Elementen mit schlichten, fast nackten Loch-Fassaden. Er investiert da, wo es sich lohnt, und exerziert hohe Zurückhaltung, um durch figürlichen Kontrast den Ausdruck zum glücklichsten Effekt zu steigern. Die Barbaro-Kapelle in Maser, Palladios größte Schöpfung, erhebt sich wie ein Zimbel-Schlag über die schlichten Gemäuer des bäuerlichen Weilers. Palladio plant seinen Effekt je nach Kontext. Wo dieser fehlt, erfindet er ihn. So sind die meisten seiner monumentalen Villen in ein Netzwerk von architektonisch extrem zurückhaltenden Nebenbauten hineingestellt.

Es ist lediglich die Schlosshaftigkeit seiner rustikalen Raumanlagen, die mir am meisten zu schaffen macht. Man könnte Goethes Monumentalismus-Kritik erweitern auf Palladios unangebrachte Monumentalisierung landwirtschaftlicher Anlagen. Ihre formalistisch-symmetrische Axialität sollte in den weltweiten Beaux-Arts-Planungen des 19. Jahrhunderts kulminieren. Bald wurden ganze Stadtviertel und – bei den utopistisch totalitären Visionen – auch ganze Metropolen in diese Zwangsjacke gesteckt werden – von Le Corbusiers Ville Radieuse bis Lúcio Costas Brasilia. Schinkels viel modernere und praktischen polyaxialen Gebäudegruppen und asymmetrischen Anlagen sind vielleicht gleichermaßen seinem Genie und der goetheschen Palladio-Kritik anzurechnen.

Es gibt ein Gemälde von Carl Laubin, das das architektonische Gesamtwerk Palladios in einer imaginären Landschaft vereint. Es zeigt nicht nur, wie zwingend unsere kollektive Vorstellung der italienischen Stadt und Landschaft mit der Palladios übereinstimmt, sondern wie sehr sie sich deckt mit dem, was wir auch nach den schrecklichsten Kriegsverwüstungen und großmaßstäblichen Verschandelungen der letzten 50 Jahre darunter verstehen und davon erwarten. Ein anderes Gemälde Laubins („Palladius Britannicus“) überschaut die von Palladio in Großbritannien und Irland beeinflussten Bauten. Es sind Bauwerke aus vier Jahrhunderten, inklusive solcher dieses Jahrhunderts. Auf diese Weise können wir uns leicht den „Palladius Americanus“ vorstellen, dominiert vom Washingtoner Kapitol, dem Weißen Haus, auf dem Hügel Thomas Jeffersons Villa in Monticello und die Rotunde der Universität in Charlottesville. Oder den „Palladio Germanicus“ mit den Werken von Weinbrenner, Klenze und Otto Wagner. Albert Speer mit einigen Werken wäre auch nicht fehl am Platz. Wir könnten feststellen, dass die Bauten der Epigonen Palladios keineswegs denen des Meisters nachstehen müssen. Sein System, seine Technik und sein Stil haben tatsächlich Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit.

Oder doch nicht? Weil Palladio einzig und allein für Kirche und Aristokratie baute, wurden seine Villen in der marxistischen Kritik als Instrumente imperial-kolonialer Machtergreifung und -legitimierung gebrandmarkt. Wäre aber Palladios Architektur tatsächlich allein dazu bestimmt, zu unterwerfen und Ungerechtigkeit walten zu lassen, dann müsste sie ja dem demokratischen Leben und Regieren im Wege stehen – was ganz offensichtlich nicht der Fall ist. Absurderweise halten selbst intelligente Menschen bis heute an dieser unhaltbaren These fest (warum nicht auch die deutsche Sprache der totalitären Exzesse für schuldig erklären?).

Deswegen war es für diese Kritiker völlig undenkbar, dass man auch nur ein einziges der neuen Gebäude im Berliner Regierungsviertel im klassischen Stil bauen könnte. Oft sind es die gleichen Menschen, die in Rage geraten angesichts des Wiederaufbaus des Berliner oder Potsdamer Schlosses, der Dresdner Frauenkirche oder jedes einzelnen Hauses am angrenzenden Neumarkt. Wenn die wiedererstandene Kuppelkirche ihnen und vor allem ihren Familien dann doch gefällt, verhalten sie sich wie die alten Herren in dem Film „Babette’s Feast“: Sie reden einfach nicht darüber – oder halten sich an Lapalien fest. Sie vergessen dabei, dass die tatsächlich imperiale und unmenschliche Dominanz in der Architektur nicht von Palladio und seinen Schülern ausgeübt wird, sondern seit drei Generationen von den Erbauern all der Stahl-, Glas- und Beton-Klötze, die unsere Städte so entstellt haben.

Die Welt, 30.11.2008