Berliner Figuren
Von Harry Nutt
Berlin ist eingerüstet. Was die Konjunkturpakete für Restaurierungsarbeiten an Straßen und Gebäuden herzugeben vermögen, schlägt sich in den letzten Ferientagen im Stadtbild nieder. Straßenlöcher werden geflickt, der im harten Winter von den Fassaden gefallene Putz wird wieder aufgetragen. An der historischen Berliner Schlossbrücke in Berlin-Mitte geht man systematischer vor. Die von Schinkel entworfenen Skulpturengruppen sind ebenfalls eingerüstet, aber nicht einfach so. Hier wird geforscht und nach Dauerlösungen gesucht. „Entwicklung und Überprüfung von Einhausungssystemen für die Skulpturen der Schlossgruppe“ steht auf dem Bauschild, das über das ambitionierte Gestaltungsvorhaben informiert. Gesucht wird nach Konservierungstechniken für alle Fälle und Wetterlagen.
Die Schlossbrücke liegt am östlichen Ende des Boulevards Unter den Linden. Eine ehemals hölzerne Brücke wurde nach Entwürfen Schinkels zwischen 1821 und 1824 durch eine Steinbrücke ersetzt. Auf hohen Postamenten thronen dort acht empfindliche Figuren aus weißem Carrara-Marmor, antike Helden und Siegesgöttinnen. Nike, Athena, Iris und andere. Die letzte Figurengruppe war 1857 aufgestellt worden. Zu DDR-Zeiten blieben die Postamente leer, weil die Figuren während des Krieges im Westteil der Stadt eingelagert waren. Im Rahmen des deutsch-deutschen Austauschs von Kulturgütern gelangten sie dann 1981 wieder nach Ost-Berlin. Von 1983 an waren sie wieder an ihren Originalstandorten zu sehen.
Phasen anhaltender Sockel-Leere
Die Marmor-Göttinnen, deren Motive an die Befreiungskriege zwischen 1813 und 1815 gegen Napoleon erinnern sollten, stehen nun Spalier als Vorbotinnen des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses. Ihre wechselvolle Geschichte erzählt auch von den Widersprüchen zwischen stolzer Symbolpolitik und den Phasen anhaltender Sockel-Leere.
Unweit der Brücke kann man sich informieren. In einem Pavillon mit Aussichtsplattform wird für den Wiederaufbau des Schlosses geworben und zu Spenden aufgerufen. Wer einen Euro in ein Drehkreuz wirft, kann von oben auf die grüne Wiese blicken, wo vor nicht allzu langer Zeit die Betonreste des Palastes der Republik standen. Wie ein gigantisches künstlerisches Deinstallationsprojekt vollzogen sich hier über Monate die Abrissarbeiten. Inzwischen sind Stegpassagen angelegt und Rollrasen ausgelegt worden.
Ein Provisorium mit verlängerter Dauer? Anfang Juni hat die Regierungskoalition im Rahmen ihrer umfangreichen Sparbeschlüsse befunden, den Baubeginn des Schlosses auf 2014 zu verschieben. Ein Staat, der sparen muss, so war zu hören, soll sich kein Schloss bauen. Jedenfalls nicht sofort. Aus dem federführenden Bundesbauministerium war zuletzt allerdings zu vernehmen, dass es vielleicht auch schon 2013 losgehen könnte. Obwohl die Leidenschaft für das Schloss inzwischen merklich erkaltet ist, gilt dessen Wiederaufbau noch immer als unhintergehbarer politischer Wille. Planungsungewissheiten sind das konstanteste Charakteristikum der seit Jahren umstrittenen Diskussion um Schloss und Humboldt-Forum.
Vom Pavillon-Gerüst blickt man herab auf eine seltsam leere Grünfläche. Die eigentliche Info-Box, die den Schlossbau nach dem Muster des erfolgreichen Informationsgebäudes am Potsdamer Platz begleiten soll, wird voraussichtlich 2011 eröffnet. Als Provisorium zur Erläuterung des historischen Kontextes und der Bauaktivitäten geplant, dürfte sich die Nutzungsdauer der Box nun verlängern. Gleich gegenüber setzt man indes nicht auf eine weitere Runde. Die Holz- und Leinwandarchitektur des White Cube, die den Berlinern Lust auf eine Kunsthalle für Zeitgenössisches machen sollte, wird demnächst wohl wieder zusammengefaltet werden. Die Bilanz des Provisoriums fällt eher negativ aus. So recht beleben konnte der White Cube die riesige Stadtbrache jedenfalls nicht.
Die Mitte Berlins, in der die Hohenzollern mal mehr und mal weniger beherzt ihre historische Größe in bauliche Repräsentation überführten, erwies sich im letzten halben Jahrhundert als Areal monumentaler Vergänglichkeit.
Die Wiese bleibt erstaunlich ungenutzt
So scheint es auch die Wiese gegenüber dem Lustgarten ausdrücken zu wollen. Obwohl es nicht wenige Berliner gibt, die sich die Wiese als Dauerlösung vorstellen können, bleibt diese erstaunlich ungenutzt. Für ein vorübergehendes Sonnenbad erscheint sie allein wegen ihrer enormen Flächigkeit zu unbehaglich. Kaum einem ist danach, hier ein Handtuch auszurollen. Als belebter Fußweg fällt die Wiese mit ihrer Holzwegpassage schon deshalb aus, weil sie für kaum einen Berlinbesucher eine nützliche Abkürzung darstellt. Hinterm Staatsratsgebäude, zwischen dem Boulevard Unter den Linden und der Leipziger Straße befinden sich allenfalls einige Funktionsgebäude. Dem touristischen Nikolaiviertel nähert man bevorzugt vom Alexanderplatz her. Als leichthin bespielbare Freizeitfläche ist die Schlosswiese keine echte Option. Das Schloss schließe eine historische und bauliche Lücke, war seit jeher das Argument der Schlossbefürworter. Die zufälligen Pfade der Passanten scheinen eine ähnliche Sprache zu sprechen. Und so ringen Schloss und Humboldt-Forum immer wieder aufs Neue um öffentliche Akzeptanz.
Dabei soll mit der Idee und der Verwirklichung des Humboldt-Forums alles anders werden. „Eine innovative, spektakuläre, multimediale und in dieser Verbindung vollkommen neue gemeinsame Veranstaltungszone von Museen, Bibliothek und Universität“, heißt es in einer kleinen Info-Broschüre der Stiftung Berliner Schloss – Humboldt-Forum, „die Agora, wird mit ihren attraktiven Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Bildungsangeboten ein neuer aufregender Anziehungspunkt für alle kulturell Interessierten werden.“ Was genau das Anziehende sein könnte, bleibt weiter sehr vage. In den Bilddarstellungen und Videoanimationen der Agora wirken die vom italienischen Architekten Franco Stella zu gestaltenden Schlossareale wie überdimensionierte Innenhöfe von Bürohäusern, in denen das Personal auf ein Klingelzeichen auf die Flure gelaufen kommt. Kulturell Interessierte strömen in den animierten Darstellungen durch Cafés, Restaurants, Shops und Mediatheken. In der Agora soll es modern zugehen in einer Gemeinschaft, die allen Formen der Musealisierung gegenüber aufgeschlossen ist.
Eine kleine Ausstellung im Spiegelsaal des Berliner Kronprinzenpalais will da schon einmal vorsorgliche Verständigungsarbeit leisten. Draußen vor der Tür stehen Kirmesbuden. Drinnen wird eine Handvoll von Exponaten aus dem Ethnologischen Museum und des Museums für Asiatische Kunst ausgestellt. Die kostbaren Stücke aus den Dahlemer Museen stehen nicht für sich oder ihren kulturgeschichtlichen Kontext. Sie leisten vielmehr eine Art Übersetzungstransfer. Das einzelne Objekt ist nicht länger Zeugnis einer untergegangenen Kultur, sondern Wiederbelebungssymbol künftiger Weltorientierung. Zu zwei Wappenpfahlmodellen der Haida-Indianer vor der kanadischen Ostküste liest man: „Heute besinnen sich an vielen Orten der Welt Angehörige der ursprünglich dort angesiedelten Kulturvölker ihrer künstlerischen und kulturhistorischen Wurzeln.“
Das Humboldt-Forum will sich als Dialogort für derlei neu erwachte kulturelle Identitätsbestrebungen anbieten. Aus Berlins Mitte soll einmal ein friedliebendes, postkoloniales Weltbewusstsein hervorgehen, für das die gegenwärtigen Streitigkeiten mit dem Chef der ägyptischen Altertumsverwaltung um den Verbleib der Nofretete-Büste im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel einmal Unstimmigkeiten einer Zeit längst überwundener Nebenwidersprüche gewesen sein werden.
Das Humboldt-Forum ist ein Projekt im Modus des Futur II. Und so darf man vermuten, dass es auch von der Wiese gegenüber des Lustgartens einmal heißen wird: Sie wird gewesen sein. Für die noch lange und wohl auch quälende Schlossdiskussion kann das nur heißen, dass noch so manche Entwicklung und Überprüfung von Einhausungsystemen durchzuführen sein wird.
Frankfurter Rundschau, 3.8.2010