„Riesiges Loch in der Mitte Berlins: Wie eine ganze Fläche plötzlich verschwand“

06.05.2022 – Berliner Zeitung

Wo heute das Schloss steht, spielten sich einst Paraden, nachgestellte Kämpfe und Weihnachtsmärkte ab. Erinnerungen an ein riesiges Feld.

Von Torsten Harmsen

Neulich bin ich mal wieder „nach Berlin“ gefahren, wie der alte Köpenicker sagt – also mit der S-Bahn in die Innenstadt. Ich muss sagen: Als einst die Idee aufgekommen war, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen, da gehörte ich zu den höhnisch Prustenden: „Pah, der olle barocke Schinken! Kaiser-Nostalgie! Was wollen wir denn damit?“

Doch als ich das Ding jetzt mal ausgiebig von vorne betrachtete, staunte ich, dass es sich doch organischer in die Landschaft einfügt, als ich einst dachte. Klar, es ist Kulissenkitsch, aber zugleich auch ein großartiger Blickfang. Ich habe es getestet, aus verschiedenen Richtungen. Die glänzende Kupferkuppel passt gut ins Ensemble mit Domkuppeln und Fernsehturm. Ich spüre sogar Anflüge von Begeisterung. Exorzisten, bitte einschreiten!

Vor allem: Das riesige Loch in der Mitte der Stadt ist endgültig weg. Das ist mir jetzt erst so richtig klar geworden. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mich hier einst mein Vater auf den Schultern trug. Viele Leute standen auf der endlosen Fläche, die sich Marx-Engels-Platz nannte. Scheinwerfer fingerten in den Himmel. Plötzlich knallte es. Verkleidete Menschen mit roten Armbinden und Gewehren stürmten über den Platz.

Es war im November 1968. Die DDR-Hauptstadt beging den 50. Jahrestag der Novemberrevolution mit einer Art historischem Reenactment. Vor meinen Augen spielte sich der Kampf zwischen Revolution und Reaktion ab, wenn auch zum Glück nicht „in echt“. Ich war sechs Jahre alt und natürlich fasziniert. Die düstere, vom Krieg kaputte Kulisse mit Domruine und Marstall passte hervorragend dazu.

Wenn aber nicht gerade Revolutionsspiele, Paraden und Kundgebungen stattfanden, war der Marx-Engels-Platz ein erstklassiger Ort, um sich eine Agoraphobie zuzulegen, sprich: Platzangst. So leer, so riesig, so kahl. Na gut, der Weihnachtsmarkt fand auch viele Jahre dort statt. Bis dann 1976 der Palast der Republik gebaut wurde und einen Teil des Platzes einnahm.

Der Palast faszinierte mich vor allem deshalb, weil ich damals Fan der Titanic war. Für mich war der Palast ein riesiges Schiff, hell erleuchtet, mit mehreren Decks, auf denen man sich totlaufen konnte. Während ich mit den Eltern herumtrottete und mir die Bilder ansah, stellte ich mir vor, wie das Monstrum ablegte und langsam losfuhr, immer die Spree hinunter. Nur die Schornsteine fehlten.

1989 lief ich wieder über den Platz, während der Demo für Meinungs- und Pressefreiheit am 4. November. In meinem Tagebuch steht: „Vor dem Staatsratsgebäude stellten einige Schauspieler auf einer Tribüne die winkenden, tatterigen, Kinder knuddelnden Politbüromitglieder dar. Die Lach-Stürme waren grenzenlos. Mir taten die Wangen weh.“

Nun ist alles fort. Auf dem Platz steht ein Bau, mit dem 1989 wohl niemand gerechnet hätte. Aber im Grunde passt er von der Zeit her viel besser zu meinen Titanic-Phantasien von einst. Katastrophenvisionen sind ja gerade recht aktuell. Alle Mann an Deck! Rette sich, wer kann!

Quelle: Berliner Zeitung, 06.05.2022

Ein Kommentar zu “„Riesiges Loch in der Mitte Berlins: Wie eine ganze Fläche plötzlich verschwand“

  1. Dieser Artikel von Torsten Harmsen gefällt mir sehr gut. Es ist eine glaubwürdige Darstellung des Meinungsumschwungs. Ehrlich und ohne ideologische Verengung. Wirkt wie ein großer historischer Stimmungsquerschnitt. Dieser Bau ist als Hybrid auch ehrlich: Funktionsfähiges Museum mit konsequent modernen Bauteilen, Verzicht auf historisierende neobarocke Imitate, Die in Material und Gestaltung präzisen, rekonstruierten Fassadenteile sind konstruktiv und handwerklich erstklassig und professionell gemacht. Im Zentrum Berlins wiedererstanden ist das ursprüngliche, authentische Stadtbild. Nach Jahren werden die Materialien Sandstein, Kupfer und Farbe die zum Umfeld noch passendere Patina angelegt haben.
    Also lieber Herr Harmsen. Dieser Neubau kann und will auch nicht das ursprüngliche „Original“ vorgaukeln, sondern das Stadtbild wiederherstellen und so den Eindruck eines historisch und kunstgeschichtlich wertvollen Barockgebäudes wiedergewinnen, aber es ist, so sorgfältig wie es gemacht ist, kein Kulissenkitsch, wie es von verborten Gegnern immer wieder heruntergemacht wird.
    Sei´s drum. In ganz Europa wurden nach dem I. und II. WK tausende zerstörte Gebäude liebevoll rekonstruiert. Eine große kulturelle Leistung für unser geschichtliches Gedächtnis. Auch in der Ukraine werden die vielen von marodierenden Vandalen zerstörte Kulturbauten von den Ukrainern ganz selbstverständlich und liebevoll wieder rekonstruiert werden. Wer wird das dann alles als Kulissenkitsch bemängeln???

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