„Aus diesem Haus kann etwas werden“

19.07.2021  –  WELT am Sonntag

Von Christoph Stölzl

Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses als Humboldt Forum hat viele Kritiker auf den Plan gerufen. Zu Unrecht, denn das Gebäude füllt eine Lücke im Herzen der Hauptstadt und ergänzt die Museumsinsel. Ab Dienstag darf man endlich hinein. Es wird uns staunen machen.

Was sind schon zwölf Jahre in der Baugeschichte einer großen Stadt? Viel, wenn man alles falsch macht. Gebaute Irrtümer kann man kaum mehr aus der Welt schaffen. Zwölf Jahre vergingen zwischen dem Fall der Mauer und dem Beschluss des Deutschen Bundestages, das Berliner Schloss äußerlich zu rekonstruieren und dort unter anderem die Kunstwerke der Preußenstiftung aus Afrika, Asien, Amerika und Polynesien zu zeigen. Die DDR hatte 25 Jahre über die Neugestaltung ihrer Mitte gebrütet, um dann mit dem Palast der Republik eine Antwort zu finden, die in keiner Weise die städtebauliche Funktion der abgerissenen Hohenzollernresidenz ersetzen konnte.

Zwölf Jahre brauchten die Deutschen, um sich ein Herz zu fassen für die Gestaltung der Hauptstadtmitte. Sehr lange konnten sie sich nicht einmal darauf einigen, wer denn eigentlich dafür zuständig sei: die Nation im Ganzen oder die Bürger der Stadt Berlin? Wer zählt die Gedanken, die Worte, die auf Podien gewechselt wurden, die Energie im Träumen wie im Polemisieren? Es ging um die Symbolik der deutschen Teilung wie der deutschen Einigung.

Wie sollte dies in Gelassenheit diskutiert werden, wo doch der gewaltige Wirbelsturm der Geschichte jede Familie betroffen hatte? Irgendwann in der Frühzeit der Debatte sagte der große Dichter Günter de Bruyn: „Die Sprengung des Schlosses war für mich damals ein Symbol für die DDR, dessen Wiedererrichtung könnte ein Symbol für die Einheit werden.“ Das große nationale Palaver über das Ja oder Nein zum Schloss hat niemanden kaltgelassen.

Am Ende aber nahm die Demokratie die Sache in die Hand. Man muss den handelnden Personen in Parlamenten und Verwaltungen attestieren, dass in der Sache des neuen Berliner Schlosses alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Dabei ist immer wieder sogar das Wunder geschehen, dass am Ende der Diskussionen Menschen ihre Standpunkte gewechselt haben.

Als ich schon Anfang 1990 vorschlug, den Palast der Republik abzureißen und das Berliner Schloss zu rekonstruieren, stand ich allein auf weiter Flur und wurde als Fantast verlacht, u. a. von der „Zeit“: Warum nicht auch gleich das Hotel „Adlon“ wiederaufbauen, höhnte das Blatt, und wieder einen deutschen Kaiser einsetzen?

Nun, einen neuen Kaiser hat Deutschland immer noch nicht, aber das „Adlon“ steht wieder und seit Ende letzten Jahres auch das neue Berliner Schloss. Seitdem ist die städtebauliche Bedeutung der einstigen Hohenzollernresidenz für jeden spürbar: Das Bauwerk war und ist wieder der Dreh- und Angelpunkt Berlins, es gibt der Mitte Halt und Proportion.

Alles Fantasieren von temporären Parks und experimentellen Zwischennutzungen waren Luftgespinste, die kurzlebige Kunsthalle war ein Federgewicht. Auch der Palast der Republik war viel zu leichtgewichtig, um die Kraft zu entwickeln, die notwendig ist, um das Gefüge der Blickachsen und Nachbarbauten im Herzen Berlins wieder ins Lot zu bringen.

Ein Gebäude ist unsterblich

Die Auffassung, dass man verlorene Bauwerke nicht rekonstruieren dürfe, hat mir nie eingeleuchtet. Denn ein Gebäude ist unsterblich, solange Baupläne und Abbilder existieren. Architektur ist Ideenkunst, die sich einen materiellen Körper leiht, aber nicht identisch ist mit ihm. Nicht zufällig heißt es im barocken Sprachgebrauch, dieser oder jener Fürst habe „ein Gebäude aufführen“ lassen.

Darum ist es legitim, dass die Venezianer ihren Campanile, die Hamburger ihren Turm von St. Michaelis, die Warschauer ihr Schloss, die Münchner ihren Kaisersaal aus dem Nichts rekonstruierten und die Dresdner ihren Zwinger erst in den 1920er-Jahren nach den barocken Entwürfen komplettierten.

Das Gebäude, das nun auf der Spreeinsel steht, tut der Hauptstadt gut. Das unwirtliche, unhistorische Vakuum in der Mitte hat ein Ende. Berlins historisches Antlitz wurde wieder lebendig, in einer Architektur, die gelassen gestern und heute verschmilzt. Hinter den neu-alten Fassaden werden keine Schlossgespenster hausen. Die Monarchie ist versunken, Macht und Bedeutung werden nicht mehr ererbt, sondern müssen alle Tage neu begründet werden, durch Demokratie und durch Kultur.

Die bundesdeutsche Demokratie hat ihren Schauplatz eineinhalb Kilometer weiter westlich, am Platz der Republik mit Reichstagsgebäude und Kanzleramt. Die Kultur bekommt im Humboldt Forum, das zu einem Teil der Museumsinsel wird, eine Bühne von ungeahnter Wirkung für den globalen Dialog der Kulturen. Zum ersten Mal seit dem Bau des ersten Schlosses vor einem halben Jahrtausend hat die Berliner Mitte einen Sinn, der weit in die Zukunft weist.

Der magische Moment des Museumserlebnisses

Und was ist mit dem „neuartigen Ausstellungskonzept“ des Humboldt Forums für das digitale 21. Jahrhundert? Gegen neue Medien im Museum ist generell nichts einzuwenden. Beim Deutschen Historischen Museum Unter den Linden haben wir von Anbeginn an Pionierarbeit geleistet bei der Digitalisierung.

Aber nicht, um die authentischen Objekte überflüssig zu machen, sondern um das Publikum hinzuführen zu dem Augenblick, wo wir, Menschen der Gegenwart, in Dialog treten mit Zeugnissen aus fernen Zeiten. Dieser magische Moment ist das Zentrum des Museumserlebnisses. Die neuen Medien dürfen die stummen Ankömmlinge aus der Vergangenheit nicht totlärmen. Denn wer hinderte dann die Ausstellungsmacher, alles nur dem Zeitgeist entlang zu arrangieren?

Während die äußerliche Rekonstruktion des Berliner Schlosses in erster Linie ein bedeutendes Stück Stadtreparatur war, eine kosmetische Chirurgie, ist das Humboldt Forum ein politisches Projekt mit einer Botschaft. Wir Deutschen setzen in die Mitte der Hauptstadt, neben die Museumsinsel und das Deutsche Historische Museum, demonstrativ die Kultur der Nichteuropäer – ganz bewusst als Kunst, nicht mehr als Völkerkunde.

Die Achtung vor den fremden Kulturen besteht ja darin, dass man diese Objekte endlich als das wahrnimmt, was sie sind, nämlich als Schöpfungen, die oft vollkommen gleichberechtigt neben unserem kulturellen Erbe in Europa stehen. Wenn das gelingt, wenn das Humboldt Forum ein Ort wird, der die „Family of Man“ in ihrer kreativen Großartigkeit zeigt, dann kann etwas daraus werden.

Ehe wir es uns versehen, wird in der Mitte Berlins eine Drehscheibe entstehen, auf die die neugierigen Massen strömen. Und die Menschen werden die Objekte der außereuropäischen Kulturen bestaunen, so als sähen sie sie zum ersten Mal.

 

Christoph Stölzl wurde 1987 Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin, das er bis 1999 leitete. Er war u. a. Feuilletonchef der WELT und Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin. Seit 2010 ist er Rektor der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar. Zuletzt wurde er Gründungsdirektor des Exilmuseums Berlin.

 

Quelle: WELT am Sonntag, 18.07.2021

 

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Ein Kommentar zu “„Aus diesem Haus kann etwas werden“

  1. Drehscheibe der Kulturen!!! das beschreibt meine Erwartungen. Vergangenheitsbewältigung und -neuausrichtung. hatte die DDR nicht auch eine „eigne“ Kolonialvergangenheit? bitte auch den Palast der Republik nicht vergessen. Die jüngste Vergangenheit mit all seinen Deutsch/Deutschen Wortschöpfungen.. werde mir einige Erinnerungstücke im Shop in eine PLASTE-Tüte packen lassen. Die nächsten Jahre werden spannend.

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