„Revolution 1918: Binnen weniger Stunden gingen die Hohenzollern unter“

09.11.2018  WELT

Am Morgen schien Berlin ruhig, doch am Abend waren das Kaiserreich hinweggefegt, die Hohenzollern Geschichte und die Republik ausgerufen. Der 9. November 1918 wurde zum Geburtstag der Demokratie.
Von Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellehoff

uf den Straßen Berlins deutete am Morgen des 9. November 1918 nichts darauf hin, dass dieser Samstag Deutschland verändern würde. Der Berufsoffizier Ernst van den Bergh machte sich wie jeden Tag in Uniform auf den Weg ins Kriegsministerium; er erreichte es unbehelligt. Ebenso wenig fiel Bogdan Krieger, dem Leiter der königlichen Hofbibliothek, etwas Außergewöhnliches auf, als er zu seinen Büchern ins Stadtschloss ging. Allerdings glich dessen Hof einem Heerlager. Der Offizier und Kulturbürger Harry Graf Kessler sah zwar am Potsdamer Platz eine einsatzbereite MG-Kompanie, doch auf der Friedrichstraße und Unter den Linden wirkte auf ihn „alles still“.

Die Leser der Morgenblätter konnten den Eindruck gewinnen, die Reichshauptstadt sei eine Insel der Ruhe inmitten des Aufruhrs. Die „Berliner Volks-Zeitung“ beschrieb die Lage: „Auch am gestrigen Freitagabend ist es in Berlin nirgends zu Ruhestörungen gekommen.“ Das liberale „Berliner Tageblatt“ verzeichnete immerhin auffallend regen Verkehr auf den Hauptstraßen und „große Menschenmassen in gespannter Erwartung“. Das „Correspondenzblatt“, die Wochenzeitung der SPD-nahen Gewerkschaftskommission, warnte vor Auseinandersetzungen auf den Straßen; blutige Zusammenstöße wie in Kiel vor wenigen Tagen dürften sich nicht wiederholen.

Doch diese Ruhe endete nach der Pause für das Frühstück. Flugblätter der Revolutionären Obleute, der USPD und der Spartakisten verkündeten: „Die Entscheidungsstunde ist da!“ Wie auf Kommando leerten sich die Betriebe. Große Demonstrationszüge Richtung Zentrum liefen zu den verschiedenen Kasernen; viele Soldaten schlossen sich den Arbeitern an.

Ebenfalls morgens hatte sich der SPD-Politiker Philipp Scheidemann bei Reichskanzler Max von Baden erkundigt, ob Kaiser Wilhelm II. endlich auf den Thron verzichte. Der Kanzler musste verneinen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass auf der Straße das Ende der Hohenzollernherrschaft proklamiert würde.

Dann erreichte ihn aus dem Reichstag die Nachricht, die Sozialdemokraten hätten das Kabinett verlassen – damit hatten sie zwei Tage zuvor gedroht, falls Wilhelm II. nicht freiwillig abtrete. Nun sah der Reichskanzler nur noch einen Weg: Er spielte einigen Redaktionen die Falschnachricht zu, Wilhelm II. habe abgedankt, und übergab nach diesem Vertrauensbruch gegen seinen kaiserlichen Vetter die Amtsgeschäfte an den SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Wenn überhaupt, dann ließ sich die Monarchie als Staatsform nur so bewahren. Zwei Mittagsblätter vermeldeten die angebliche Abdankung.

Philipp Scheidemann ruft die Republik aus

Scheidemann aß gerade im Restaurant des Reichstages eine Suppe, als er erfuhr, dass der Führer der Sozialisten, Karl Liebknecht, demnächst die Räterepublik ausrufen werde. Den Spartakisten durfte man nicht die Initiative überlassen, das spürte Scheidemann instinktiv; auf ein Gespräch mit Parteichef Ebert verzichtete er.

Stattdessen trat der SPD-Politiker gegen 14 Uhr an ein Fenster des Reichstagsgebäudes, vor dem einige Hundert Menschen standen, und verkündete: „Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue; es lebe die deutsche Republik!“ Scheidemann wusste um die Bedeutung des Moments: „Sorgt dafür, dass dieser stolze Tag durch nichts beschmutzt werde. Er sei ein Ehrentag für immer in der Geschichte Deutschlands.“

Scheidemann war Liebknecht zuvorgekommen, doch der Spartakus-Führer gab deshalb nicht auf. Anderthalb Stunden später proklamierte er erst von einem Lastwagen im Lustgarten, dann kurz darauf erneut von einem Balkon des Berliner Schlosses seine Idee vom künftigen Deutschland.

Liebknecht wandte sich aber ausdrücklich nicht an das gesamte Volk, sondern an seine Anhänger: „Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland!“ Und er forderte gleich zur „Weltrevolution“ an der Seite des bolschewistischen Russlands auf.

Ebert ärgerte sich über Scheidemanns Alleingang, musste aber dringendere Probleme lösen. Der neue Kanzler brauchte einen Partner, um glaubwürdig einen Neuanfang zu wagen, den ersten Schritt hin zur parlamentarischen Republik, die ihm vorschwebte. Die bürgerlichen Parteien schieden aus, denn sie waren beim Volk diskreditiert. Blieben die Unabhängigen Sozialdemokraten. Noch am Nachmittag suchte Ebert die USPD-Reichstagsfraktion auf und schlug vor, ein Kabinett nur aus Sozialdemokraten zu bilden.

Doch die Reaktion fiel reserviert aus: Die Demonstrationen in Berlin, zu denen auch die USPD aufgerufen hatte, richteten sich gegen die Regierung Max von Badens, in der die SPD saß oder zumindest gesessen hatte. Da könne man doch schlecht einfach mit ihr koalieren. Außerdem seien Kooperationen in lokalen Arbeiter- und Soldatenräten etwas anderes als eine gemeinsame Regierung für das Reich.

Karl Liebknecht, der noch zur USPD zählte, auch wenn er schon den besonders radikalen Spartakus-Bund gegründet hatte, sprach sich entschieden gegen jede Zusammenarbeit mit der SPD aus. Dafür plädierte ausgerechnet sein Konkurrent am linken Rand, Emil Barth, der in den Wochen zuvor den bewaffneten Aufstand mit vorbereitet hatte. Man habe so lange auf den Sturz des Bestehenden hingearbeitet – und jetzt solle man sagen „Bitte schön, machen Sie es, wir sind zu dumm“?

Liebknecht gab zum Schein nach, forderte aber unerfüllbare Bedingungen: Arbeiter- und Soldatenräte sollten allein alle Gewalt ausüben, die Parlamente aufgelöst, Fabriken und Banken an die Räte übergeben werden. Die letzte Bedingung: Die Koalition dürfe nur bis zum Waffenstillstand bestehen, über den gerade verhandelt wurde. Als die USPD diese Bedingungen vortrug, erwiderte Scheidemann trocken: „Wie denkt ihr euch das?“ Man vertagte sich, um eine Nacht darüber zu schlafen.

In Berlin besetzten derweil Aufständische die Kraftwerke und schalteten den Strom ab. Sie übernahmen das Rathaus, das Haupttelegrafenamt und mehrere Redaktionen, auch das Reichstagsgebäude und die wichtigsten Bahnhöfe; auf dem Brandenburger Tor wehte die rote Fahne. Die Stadt veränderte sich mit einem Schlag völlig.

Max Goldstein, einem Redakteur der „Vossischen Zeitung“, schien der Boden unter den Füßen zu wanken. Fassungslos sah er Lastautos mit Soldaten vorbeirasen, die rote Fahnen schwenkten; an die Türen der Museen in der Prinz-Albrecht-Straße hatte irgendwer rote Zettel mit der Aufschrift „Volkseigentum“ geklebt. Im Stadtschloss wurde gleichzeitig geplündert, wie Hofbibliothekar Bogdan Krieger bestürzt feststellte.

Ihrem Sohn schrieb Betty Scholem, die Frau eines Druckereibesitzers, sie habe am Nachmittag „mit erstaunten Nasenlöchern die rote Fahne am alten Schloss wehen“ sehen. Zusammen mit ihrem Mann kam die 51-Jährige wenig später noch einmal vorbei, um „mit Vater noch ein bisschen zur Revolution“ zu gehen. Dann allerdings fielen auf dem Schlossplatz Schüsse, die Schaulustigen flüchteten, „wir mittenmang“. Nach diesem Erlebnis fürchteten die Scholems eine Radikalisierung: „Hoffentlich geht es ohne Bürgerkrieg ab.“

Trotz solcher Übergriffe verlief der Tag des Umsturzes insgesamt erstaunlich gewaltarm: Es gab nur eine Handvoll Tote, obwohl zahllose Bewaffnete auf den Straßen der Reichshauptstadt unterwegs und immer wieder Schüsse zu hören waren. Ob aus Freude oder um politische Gegner zu vertreiben, wusste niemand.

Knapp, aber präzise fasste der SPD-Abgeordnete Eduard David am Abend des 9. November die Ereignisse zusammen: „Abdankung des Kaisers. Revolution. Republik.“ Die Redaktion des „Berliner Tageblatts“ fand in der Ausgabe am Sonntagmorgen die treffende Formel: „Gestern früh war alles noch da. Gestern Nachmittag existierte nichts mehr davon.“ Ähnlich dachte Harry Graf Kessler – er schrieb in sein Tagebuch: „Nie ist das ganze innere Gerüst einer Großmacht in so kurzer Zeit so vollkommen zerstäubt.“

 

Quelle: WELT, 09.11.2018

 

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