„Gereon Siervernich im Gespräch – Humboldt winkt am Horizont“

25.01.2018   Der Tagesspiegel

Wie kommt die Welt nach Berlin? Nach siebzehn Jahren verlässt Gereon Sievernich den Gropius-Bau. Ein Gespräch über die Schönheit des Entdeckens – und den offenen Blick.

Von Rüdiger Schaper

Herr Sievernich, Sie haben einmal eine schöne Olympia-Ausstellung im Martin-Gropius- Bau gemacht. So könnte man auch Ihr Programm der letzten siebzehn Jahre beschreiben: olympisch. Unterschiedliche Disziplinen. Klassisch, sportlich.

Dieses wunderbare Haus ermöglicht das. Wir konnten drei Etagen gleichzeitig bespielen, Ausstellungen parallel laufen lassen. Das Grundthema war die menschliche Kreativität – das lässt sich auch gar nicht eingrenzen. Das Spiel zwischen dem Historischen und der zeitgenössischen Kunst bleibt offen, diese Durchlässigkeit war mir von Anfang an wichtig. Ich zähle ausdrücklich Archäologie und Fotografie dazu. Übrigens hat auch die Skulptur eines antiken griechischen Diskuswerfers etwas Performatives.

Der Gropius-Bau gehört zu den Berliner Festspielen. Was unterscheidet ihn von einem Museum oder vom geplanten Humboldt Forum?

Der Vorteil ist, dass wir im Gropius-Bau keine Sammlung haben. Eine Sammlung bindet viele Kräfte und engt auch ein. Wir konnten frei durch die Welt gleiten, zwischen den Themen und den Kontinenten, so wie ich es zuvor bei den „Horizonte“-Festivals der Berliner Festspiele schon praktizierte. 2001 habe ich den Gropius-Bau übernommen, seither gab es 190 Ausstellungen, darunter viele Wiederentdeckungen. Jeweils ein Drittel Zeitgenössisches wie Ai Weiwei, Anish Kapoor, Olafur Eliasson, Rebecca Horn, ein Drittel Fotografie, Robert Capa oder Henry Cartier-Bresson zum Beispiel, und dann die großen historischen Ausstellungen über die Kultur der Maya, des alten Japan, die Gandhara-Kultur.

Der Gropius-Bau als Ort der Entdeckung?

Auch Fotografie ist Archäologie. Ich erinnere an das magische Bild von Cartier- Bresson, 1961 hier entstanden, als die Mauer durch Berlin gebaut wurde: Da schauen drei Menschen über die soeben errichtete Sperre.

Der Gropius-Bau steht ja unmittelbar an der ehemaligen Grenze.

Die unterste Treppenstufe war schon Ost-Berlin. Die Mauer, die ja jetzt weg ist, war an der Stelle etwas zurückgesetzt, weil die Amerikaner für ihren Sektor forderten, hier mit einem Jeep Patrouille zu fahren.

Die Gegend um den Gropius-Bau ist immer in Bewegung gewesen. Jetzt spricht man sogar von einem neuen Filmhaus auf dem Parkplatz, wo früher einmal das Berliner Museum für Völkerkunde stand.

Das Gold von Troja war ursprünglich im Gropius-Bau ausgestellt, im von uns heute so bezeichneten Schliemann-Saal. Dann wurde es als angeblich vaterländischer Schatz ins Museum für Völkerkunde transferiert. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Flucht des Kaisers ins Exil zog das Kunstgewerbemuseum ins Schloss, und bei uns zogen die asiatische Kunst und die Vor- und Frühgeschichte ein. Für den Direktor eines solchen Hauses sind das tolle Voraussetzungen. Der damalige Direktor der Kunstbibliothek, Curt Glaser, zeigte hier im Lichthof Ausstellungen mit japanischer Kunst – in den 1920er Jahren. Das Gebäude in seiner wechselhaften Geschichte hatte schon immer eine Universalität, auf die man zurückgreifen konnte.

Manche haben das als Beliebigkeit empfunden. Aber haben Sie im Grunde nicht den Humboldt’schen Gedanken aufgenommen, dass Kulturen einander gleichwertig sind?

In Wien wurde jetzt ein „Weltmuseum“ eröffnet. Das war der Gropius-Bau eigentlich immer. Wenn Sie an Georg Forster denken, Alexander von Humboldts Mentor: Forsters Reisewerke haben den offenen, aufklärerischen Blick gegenüber allen Kulturen. Das habe ich schon in meiner Studienzeit gelesen und in meinem Arbeitsleben umzusetzen versucht.

Warum nur habe ich die ganze Zeit das Gefühl, mit dem Direktor des Humboldt Forums zu sprechen?

(lacht) Keine Ahnung. Für das Haus der Kulturen der Welt habe ich 1988 das Gründungspapier geschrieben. Das baute auf den „Horizonte“-Festivals auf.

Die Frage lautet also: Wie kommt die Welt nach Berlin? Warum und woher jetzt das Humboldt Forum?

Wir haben viel in die Stadt hineintransportiert. Das kollektive Gedächtnis ist dadurch bereichert worden. Das Humboldt Forum kann darauf aufbauen. Es gibt in Berlin ein im Sehen trainiertes Publikum. Ich lerne sehen, indem ich Maya-Kunst mit japanischer Holzskulptur vergleiche, wissenschaftlich und ästhetisch. Jede Generation muss das neu auf die Bühne stellen, und jede Zeit diskutiert anders. Heute geht es sehr stark um den angeblich dominierenden kolonialen Blick. Selbstverständlich muss darüber gesprochen werden, woher die Stücke stammen und wie sie in unsere Sammlungen gekommen sind. Doch dürfen wir dabei die ästhetische Perspektive auf die Künstler und die Kulturen nicht aufgeben. Das bleibt ein Weltthema.

Das Thema Raubkunst und Kolonialzeit hat bei Afrika-Ausstellungen im Gropius- Bau keine Rolle gespielt.

Ich komme auch von der Ethnologie, das Thema ist mir seit Jahrzehnten bekannt. Man hat sich früher in den Museen vor diesem komplexen Thema Restitution durchaus gedrückt. Jetzt erleben wir aber einen Paradigmenwechsel. Der französische Präsident Macron sagt: Alle afrikanischen Stücke zurückgeben! In der Sepik-Ausstellung über Neuguinea ging es auch um die Kolonialzeit. Allerdings haben die Menschen dort auch Kunstwerke für die Europäer geschaffen, sie wollten verkaufen für den europäischen Markt, um tauschen zu können. Auch solche Aspekte gibt es. Aber es ist gut, dass wir jetzt diskutieren, mit welch zum Teil grausamen Mitteln im außereuropäischen Raum gesammelt wurde, wobei den Ethnologen etwas viel aufgebürdet wird. Zur Kolonialmacht gehörten auch Ärzte, Missionare, Kaufleute, Juristen – denken Sie an die ungleichen Verträge – und natürlich Politiker und Militärs.

Ein zeitgenössischer Künstler wie William Kentridge, mit dem Sie 2016 eine große Ausstellung gemacht haben, verbindet diese Fragen. Als Südafrikaner beschäftigt er sich mit dem kolonialen Erbe, aber auch mit Franz Schubert.

Der Gropius-Bau ist auch ein schwieriges Haus. Denn da ist der große Lichthof, und da war die Frage: Kann ein Künstler diesen gewaltigen Raum bespielen? Das war die eine Bedingung – etwa für Eliasson, für Kapoor. Und es war manchmal ganz schön schwer, die finanziellen Mittel für diese großen Inszenierungen zu beschaffen.

Ist der Lichthof nicht das Markenzeichen des Gropius-Baus, beginnt man nicht immer dort den Rundgang?

Das klingt gut: Der Besucher geht als Performer in die Ausstellungen.

Tino Sehgal mit seinen interaktiven Choreografien, seinen leeren Räumen hatten Sie auch. Wie gefällt Ihnen die modische Verbindung von Theater und Museum?

Es ist im Moment etwas einseitig. Die performativen Künstler suchen nach neuen Spielstätten, und das kann ein altes Kraftwerk oder der Gropius-Bau sein. Nur ist die neue Spielstätte allein noch nichts Besonderes. Leider funktioniert es umgekehrt nicht: Rembrandt und Rubens in der Volksbühne, das wäre auch mal was! Ein echter Tausch. Sasha Waltz hat seinerzeit mit ihren Tänzern das Neue Museum wiedereröffnet. Aber ihre Choreografie war dann auch gezielt für dieses Gebäude entwickelt – im Dialog mit der Sammlung. Dann ist es wirklich etwas Neues. Eigentlich aber ist die performative Kunst auch schon lange in den Museen zu Gast, denken Sie an Karlheinz Stockhausen, die Fluxus-Leute, an Nam June Paik und die Künstler um die Wuppertaler Galerie „Parnass“, Joseph Beuys und Marina Abramovic.

Die Idee einer immersiven Kunst ist auch nicht ganz frisch, oder?

Da kann man im Grunde bis zum antiken Theater zurückgehen, mit seiner Idee der Katharsis. Jede Zeit bringt eben neue Ausdrucksformen hervor.

Sind es nicht eher neue Formulierungen als neue Formen?

Picassos berühmtestes Bild, die „Demoiselles d’Avignon“, bezieht sehr stark afrikanische Masken ein, die hatte er damals im Trocadéro, einem ethnologischen Museum in Paris gesehen. Solche Übersprunghandlungen, wie man in der Psychologie sagen würde, bringen neue, frappante Werke hervor. Auch deshalb haben wir im Gropius-Bau keine Kunstepoche ausgeschlossen. Im Herbst kommt dann die steinzeitliche Venus von Schwaben, 30 000 Jahre alt, nach Berlin

Dann gibt es doch so etwas wie Zeitlosigkeit in der Kunst?

Ich glaube nicht. Denken Sie daran, wie Ende des 18. Jahrhunderts, es war wohl in Düsseldorf, das Kunstgeschichtslabel erfunden wurde, die Einordnung und Klassifikation eines Kunstwerks. Das haben sich die Kunsthistoriker bei den Naturwissenschaftlern und dem linnéschen System abgeschaut, der „Systema naturae“. Damit begann um 1800 die Taxonomie: Alles wird nun in Schulen eingeteilt und bewertet und benotet. So wurden auch die Museen aufgebaut. Dabei ist die Trennung von Kunst und Kunstgewerbe auch so ein taxonomisches Problem. Wir haben ein Museum für asiatische und eines für islamische Kunst, aber wir haben kein Museum für afrikanische Kunst. Alexander von Humboldt allerdings hat schon während seiner Zeit in Amerika altmexikanische Werke als kunsthistorisch bedeutend angesehen.

Ist das Publikum da nicht schon weiter als all die Kunsthistoriker und Kuratoren?

Das Publikum kümmert sich nicht so sehr um all die Bezeichnungen und Labels und Einteilungen. Die Leute gehen genauso durch eine Sepik-Ausstellung wie durch die Säle mit Arbeiten von William Kentridge. Das Publikum ist offen für den neuen Blick. Ein Haus wie der Gropius- Bau kann nur immer wieder neue Angebote machen, um die Gebiete der menschlichen Kreativität zu erschließen.

Wie wollen Sie Ihre Erfahrungen bei Ihrer neuen Aufgabe als Kurator des Hauptstadtkulturfonds umsetzen?

Es ist ja eine siebenköpfige Jury, die Projekte nicht aktiv entwickelt, sondern über Anträge entscheidet. Der Kurator hat nur eine Stimme. In diesen Jury-Diskurs will ich gern meine weltweiten Erfahrungen einbringen. Berlin ist ungemein attraktiv für Künstler aus aller Welt. Ich könnte dazu beitragen, den hier moussierenden ästhetischen Entwicklungen auf die Bühnen der Stadt zu verhelfen.

Das Gespräch führte Rüdiger Schaper.

 

Quelle: Der Tagesspiegel, 25.01.2018

 

 

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