„9. November 1918: Wie Karl Liebknecht ins Berliner Schloss kam“

05.11.2018  Sputnik Deutschland

Von Tilo Gräser

Das Berliner Schloss wird wieder aufgebaut und soll 2019 wieder eröffnet werden. Vor 100 Jahren hat es eine zentrale symbolische Rolle in der Novemberrevolution 1918 gespielt. Daran und an das, was damals im kaiserlichen Schloss geschah, erinnert ein neues Buch. Seine Autoren haben es am Sonntag vorgestellt – an nicht minder historischem Ort.

Was geschah am 9. November 1918 am und im Berliner Schloss? Damit beschäftigte sich am Sonntag eine Veranstaltung in Berlin, auf der das Buch „Mythos der Revolution – Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918“ vorgestellt wurde.

Er habe keine handfesten Beweise dafür gefunden, was genau an dem 9. November vor 100 Jahren geschah, erklärte der Historiker und Mitautor Dominik Juhnke. Das Material, das er als Grundlage für seinen Buchbeitrag genommen habe, sei konträr und widersprüchlich, ermögliche aber einen neuen Blick auf diesen historischen Tag. Gleichzeitig würden viele Fragezeichen bleiben, so dass er auch keine endgültige Version liefern könne.

Historischer Ort

Der Bereich „Geschichte des Ortes“ der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss hatte zu der Veranstaltung in das ehemalige DDR-Staatsratsgebäude eingeladen. In dessen Eingang wurden Teile  des originalen Portals IV des Schlosses verbaut, von dem aus Karl Liebknecht die sozialistische Republik ausgerufen haben soll.

In direkter Nachbarschaft entsteht derzeit an historischem Ort der Nachbau des Berliner Schlosses, nachdem zuvor von 2006 bis 2009 der dort in der DDR errichtete Palast der Republik abgerissen worden war. Die DDR berief sich unter anderem auf das Erbe von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wovon bis heute ein Glasbild von Walter Womacka im Treppenaufgang des einstigen Staatsratsgebäudes und heutigen Sitzes der European School of Management and Technology (ESMT) kündet.Juhnke beschreibt anhand verschiedener Quellen, die er innerhalb von zwei Jahren im Auftrag des  Humboldt Forums recherchierte, „Szenen des Aufruhrs“ an jenem Tag am Berliner Schloss und was sich dann in diesem zugetragen hat.

Überraschende Öffnung

Liebknecht proklamierte von einem Schlossfenster aus die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Davon gibt es kein Foto, anders als von dem SPD-Abgeordneten Philipp Scheidemann, der zwei Stunden am Reichstag zuvor die freie Republik ausgerufen haben soll. Dafür sei es an diesem Novembertag vor 100 Jahren, gegen 16.30 Uhr, wahrscheinlich schon zu dunkel gewesen, wurde auf dem Podium vermutet.

Kaiser Wilhelm II. hielt sich schon seit Jahren nicht mehr im Berliner Schloss auf und war am 29. Oktober 1918 ins deutsche Hauptquartier nach Spa abgereist. Autor Juhnke berichtet, wie es kam, dass das von Truppen bewachte Schloss nicht wie befürchtet von den revolutionären und zum Teil bewaffneten Arbeitern und Soldaten gestürmt, sondern friedlich eingenommen  wurde.

Harry Neumann, ein Unterhaltungskünstler, habe dafür gesorgt. Für ihn sei „der drohende Raubzug durch den Kaiserpalast eine entsetzliche Vorstellung“ gewesen. Deshalb habe er am Schlossportal geklopft, sich als Vorsitzender einer Kommission ausgegeben und Einlass gefordert. Der sei ihm gewährt worden, samt einem Dutzend anderer Demonstranten – und plötzlich habe Neumann mit den Militärs verhandelt.

Unaufhaltsame Menge

Der Historiker gibt die Situation so wieder: „Die Menge sei durch nichts mehr aufzuhalten, erklärt der Unterhaltungskünstler, das Militär müsse sich zurückziehen, seine ‚Kommission‘ übernehme die Garantie, dass es zu keinen Plünderungen komme. Dafür müsse er aber ‚unverzüglich‘ die Gelegenheit erhalten, ‚vom Mittelbalkon des Schlosses‘ zur Menge zu sprechen.

Daraufhin hätten die Offiziere und der führende General dem zugestimmt und für sich und die Soldaten der Wache nur freien Abzug gefordert. Danach habe der Kastellan des Schlosses Neumann zum Balkon geführt, wobei dieser noch eine rote Decke um einen Schirm gewickelt habe. Dann betrat „der arbeitslose Publikumsanheizer, der Showansager Harry Neumann“ den Balkon des Schlosses und zeigte sich den Massen vor dem Gebäude. „Unmöglich sei es, den einsetzenden ‚Begeisterungstaumel‘ zu schildern, wird er zehn Jahre später schreiben, die Luft erbebt unter den Hochrufen. Minutenlang jubelt die Menge dem Entertainer zu.“

So war der Weg für Liebknecht frei. Die Szene dürfte zu den vielen anderen an diesem Tag vor 100 Jahren gehören, die damals das Geschehen prägten, aber aus der Erinnerung verschwanden. Im kollektiven Gedächtnis seien vor allem symbolhafte Szenen wie eben jene Ausrufungen der Republik durch den Sozialdemokraten Scheidemann und den Kriegsgegner Liebknecht haften geblieben, hieß es bei der Buchvorstellung.

Mehrfache Ausrufungen

Dabei sei selbst die Republik am 9. November gleich mehrfach an verschiedenen Orten und von verschiedenen Akteuren ausgerufen worden, hob der Historiker Lothar Machtan nach der Veranstaltung gegenüber Sputnik hervor. Machtan hat unlängst das Buch „Kaisersturz – Vom Scheitern im Herzen der Macht“ veröffentlicht, das als Grundlage für das gleichnamige Dokudrama des ZDF über die historischen Ereignisse diente.

Von Martin Sabrow stammt in dem Buch über das Berliner Schloss im November 1918 ein Aufsatz über Liebknecht als „Volkstribun und Hassfigur“. Der Historiker ist Direktor am Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam und Geschichtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Ersehnter Messias

„An jenem 9. November des Jahres 1918, der der elfhundertjährigen Tradition deutscher Kaiser- und Königsherrschaft ihr unspektakuläres Ende bereitete, stand Karl Liebknecht im Zenit seines Ansehens als revolutionärer Arbeiterführer“, schreibt Sabrow. Diesen Nimbus habe er als Reichstagsabgeordneter der SPD durch sein Nein im Dezember 1914 zu den Kriegskrediten erreicht. Die kriegsmüden Arbeiter und Soldaten hätten in dem im Oktober 1918 aus der Kerkerhaft entlassenen Revolutionsführer „den ersehnten Messias“ gesehen, der ihnen den erhofften Frieden bringt.

Sie habe erstaunt festgestellt, dass Liebknecht nicht nur eine Ikone der sozialistischen Bewegung seiner Zeit, berichtete Mitautorin Judith Prokasky von der Stiftung Humboldt Forum in der Veranstaltung. Er sei ebenso eine „ganz große Ikone“ der damaligen Friedensbewegung und der Streikbewegung gerade in der Rüstungsindustrie gewesen, eng verbunden mit der Forderung nach dem Ende des Krieges. „Das finde ich bedauerlich, dass diese Seite von Karl Liebknecht ein bisschen in der heutigen Wahrnehmung in Vergessenheit geraten ist.“ Weil er die sozialistische Revolution nicht vollendet habe, gelte er als „lächerliche Figur“, bedauerte die Historikerin.Sie hat in dem Buch einen Aufsatz über die symbolische Bedeutung der Reden von Balkonen des Berliner Schlosses veröffentlicht. „Der Anti-Militarist und Sozialrevolutionär Liebknecht wählt das Schloss für seinen Auftritt, weil hier mit den kaiserlichen Balkonreden von 1914 der Krieg und die Enttäuschung der gesellschaftspolitischen Erwartungen sinnbildlich ihren Ausgang nahmen. Er wählt es, weil es als Symbol für die überkommene Monarchie steht, ähnlich wie die Pariser Bastille, die am 14. Juli 1789 ebenfalls nahezu leer stand.“

Irritierende Kompromisslosigkeit

In Nummer 14 der in der DDR herausgegebenen Reihe „Illustrierte Historische Hefte“, 1978 unter dem Titel „Revolutionstage November 1918“ erschienen – Autor war der renommierte DDR-Historiker Wolfgang Ruge –, wird auf Seite 2 ein Foto eines der beiden Demonstrationszüge am Morgen des 9. November 1918 gezeigt, die in Folge des ausgerufenen Generalstreiks vom Norden und vom Südwesten auf Berlins Mitte zumarschierten. An der Spitze des Zuges ist Liebknecht zu sehen.

Er habe sich in Steglitz eingereiht und dafür gesorgt, dass Frauen und Kinder nicht mehr mitgehen. Die Angst sei groß gewesen sei, dass kaiserliche Truppen das Feuer auf die Demonstranten eröffnen, so Sabrow. Denn der Generalstreik im Kriegszustand, der weiter herrschte, habe Landesverrat bedeutet.

Doch Liebknechts Kompromisslosigkeit in den Novembertagen habe nur seine Popularität unter den radikalen Linken steigen lassen, erklärte der Historiker bei der Buchvorstellung. „Er verspielt sein Renommee in starkem Maße durch die fast fieberhafte, fast wirre Aktivität, mit der er versucht, die Revolution um jeden Preis weiterzutreiben – am Ende auch gegen Rosa Luxemburg. Er scheint vielen Beobachtern als ein Getriebener.“ Bis zum 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Luxemburg und ihm, sei Liebknecht zunehmend isoliert gewesen.

Ungeplanter Mord

Sabrow meinte, der Mord an Luxemburg und Liebknecht sei „nicht unbedingt aus einem festgefügten Plan“ zu erklären. Hauptmann Waldemar Pabst von der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Hotel „Eden“, in deren Hände beide gemeinsam mit Wilhelm Pieck gefallen waren, sei sich gar nicht sicher gewesen, was mit ihnen geschehen soll. Andere Offiziere im Hotel-Casino hätten die Stimmung angeheizt und versucht, Soldaten mit Geld zum Mord an Luxemburg und Liebknecht anzustiften, was der Jäger Otto Runge dann ausgeführt habe. Das ist für Sabrow „Ausdruck der verrohten Atmosphäre dieser Zeit und nicht unbedingt der Plan, um ein Überschwappen der Oktoberrevolution zu verhindern“.

Für den Historiker hat das aktuelle Interesse an den Ereignissen vor 100 Jahren etwas mit diesem Jubiläum zu tun, dass eine „eigentlich weitgehend vergessene Revolution wieder ins Gedächtnis zurückgerufen“ wird. Er befürchtet heute eine „romantische Historisierung“, nachdem lange Zeit in der Bundesrepublik gerade der linksradikale und später kommunistische Teil der revolutionären Bewegung als nicht erinnerungswürdig galt.Für Sabrow ist die Frage, ob diese Erinnerung dauerhaft ist oder ob die deutsche Revolution 1918 „wieder in den Halbschatten zurückgleitet“, in dem sie vorher war. Seine Fachkollegin Prokasky wandte sich gegen das „romantisierende Abfeiern von Jahrestagen“.

Das Buch, erschienen im Hanser Verlag, leistet einen kleinen Beitrag gegen diesen Trend. Die drei Historiker haben es geschafft, in dem kleinen Band mit nur 144 Seiten die zahlreichen Geschehnisse vor 100 Jahren in der deutschen Hauptstadt übersichtlich zusammenzufassen und Grundlinien darzustellen. Das wird ergänzt von Karten des damaligen Berlins und des Schlosses im Originalzustand, einer Reihe von Illustrationen sowie durch Aussagen von Zeitzeugen, durch eine Chronologie der Ereignisse und einer Liste der wichtigsten Akteure.

 

Dominik Juhnke, Judith Prokasky, Martin Sabrow: „Mythos der Revolution – Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918“

Hanser Verlag 2018. 144 Seiten. ISBN 978-3-446-26089-4; 15 Euro

 

Quelle: Sputnik Deutschland, 05.11.2018

 

 

 

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