„Wie Lenins Kopf in Berlin gelandet ist“

29.04.2016    WELT

Als Berlin wieder vereint wurde, verschwand das größte Denkmal aus dem Osten. Nun ist Lenin wieder da. Sein Kopf ruht jetzt in einer Dauerausstellung im Westen. Eine Geschichte ohne Sieger.

Von Michael Pilz

So sieht man sich wieder. Lenin, jedenfalls sein Haupt, ruht nun in Spandau auf der Zitadelle. Früher hatte dieser fast vier Tonnen schwere Kopf aus ukrainischem Granit in Friedrichshain auf seinem Rumpf gesessen und dann 25 Jahre lang im Köpenicker Forst gelegen. Heute ist auch Lenin ein Berliner. Sie haben ihn für die Dauerausstellung „Enthüllt – Berlin und seine Denkmäler“ auf sein inzwischen fehlendes rechtes Ohr gebettet.

Aus der Glatze ragen noch die Stahlstifte, die Lenin zur Enthauptung und Entsorgung eingeschlagen worden waren. Zwei Paar Teufelshörnchen. Die in Moskau aufgebahrte Mumie, das Original gewissermaßen, ist fünf Zentimeter kleiner als der Kopf. Er starrt mich an, ich singe ihm sein Eisler-Lied, „Er rührte an den Schlaf der Welt“, jetzt liegt er da.

Als Lenin 1970 feierlich am Leninplatz in Friedrichshain enthüllt wurde, war ich fünf Jahre alt. Die Straßenbahn, die damals noch nicht Tram hieß, fuhr mich regelmäßig zu ihm und an ihm vorbei. Fast 20 Meter war er groß, ein Schutzheiliger der sich um ihn ausbreitenden Plattenbauten, in denen kaum einer an ihn glaubte; ein Patron der Kaufhallen zu seinen Füßen, wo die Weltrevolution an den Regalen endete.

Nach 20 Jahren hatte Lenin seine Schuldigkeit getan, die deutsche Einheit war besiegelt, noch am Vorabend der Feier setzten ihn die Denkmalschützer schnell auf ihre Liste. Was danach geschah, bis er im Spandauer Museum seine Ruhe finden durfte, kann gar nicht zu oft und ausführlich erzählt werden. In der Geschichte geht es nicht nur um ein Denkmal in Berlin. Es geht auch darum, dass die Deutschen ihren eigenen Osten nicht verstehen, weil sie bisher dachten, alles, was dort bis vor 26 Jahren war, wäre Geschichte.

1990 wurden Ost und West auch in Berlin vereint, die Junge Union im Westen rief zum Bildersturm im Osten auf, gestandene Politiker schlossen sich an und formulierten Forderungen. Eberhard Diepgen wurde 1991 Bürgermeister von Berlin, er wollte alle Denkmäler der DDR abräumen, Straßen umbenennen, die Karl-Marx-Allee planieren, den Palast der Republik sprengen. Sein Stadtentwickler Volker Hassemer erklärte, die Revolution von 1989 sei erst dann beendet, wenn das letzte DDR-Denkmal verschwunden sei. Volker und Eberhard, die alten Revoluzzer.

Die Passion Lenini

Nachdem die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain über den Lenin abgestimmt hatte, mit einer Mehrheit gegen ihn und über seinen Denkmalschutz hinweg, wurde, um Tatsachen zu schaffen, eine Baufirma betraut. Es gab zwar allerlei Ideen, Lenin kommentierend zu konservieren, ihn mit Efeu zu beranken, ihn zu unterspülen, um ihn schief zu stellen wie sein Weltbild, oder ihn von Christo einpacken zu lassen.

Es gab Bürgerinitiativen, Sabotagen am Gerüst und Eierwürfe auf die Arbeiter, für die das Denkmal stand – so hatte Walter Ulbricht es zur Einweihung verkündet. Lenin wurde abgerissen. Der Granit war hart, der Bildhauer Nikolai Tomski hatte ihn mit Straßenbahnschienen verstärkt, es mussten Sprengsätze gezündet werden. Schließlich fiel der Kopf, der Riese stürzte, er wurde zerstückelt und heimlich nach Köpenick geschafft. Dort wurde Lenin zur Legende.

Es gab herrliche Geschichten über Schatzsucher in der Seddiner Heide, Sicherheitsbeamte aus dem Heer der arbeitslosen Stasi-Schergen, die den Schutt beschützen, Internetseiten mit GPS-Koordinaten, in den Wäldern tief im Osten von Berlin. Ich wohne da: Spaziergänger und Hundehalter stiegen auf den Sandhügel, der über Lenins Überresten aufgeschüttet worden war, um über die Geschichte Gras wachsen zu lassen. Läufer liefen um den Leninhügel, um die Lagerfeuerstellen und um den verlassenen Stasi-Schießplatz.

Niemand kam in Köpenick auf die Idee, an Lenins Schlaf zu rühren, auch der Förster mit dem schönen Namen Karl-Heinz Marx nicht, der die Steine einfach liegen lassen wollte. Bis 2009, als sich in Spandau die Museumsleitung an den Fall erinnerte und eine Ausgrabung beantragte. Fünf Jahre später einigten sich die Senatsverwaltung und das Landesdenkmalamt darauf: zu teuer, niemand wisse, wo der Lenin liege, und das Denkmal, das, einmal zerstört, keines mehr war, wurde als archäologisches Kulturgut eingestuft.

Die Medien der Welt berichteten über die Farce, die Bürokraten gaben nach. Dann kam die Zauneidechse: Es ist immer sonnig auf dem Hügel, im Berliner Osten ist das Wetter schöner als im Westen, es gibt Ritzen in den alten Steinen. Erst als die Naturschützer in leeren Joghurtbechern alle Eidechsen gefangen hatten, konnte Lenins Kopf geborgen werden. Im vergangenen Spätsommer kam er ans Licht, behutsam schaufelten die Arbeiter ihn wieder frei, fegten den Sand vom Spitzbart und hoben ihn mit dem Kran auf einen Sattelschlepper, der gemessen durch die ganze Stadt fuhr, vom Südosten nach Nordwest, wieder begleitet von den Medien der Welt. Wladimir Iljitsch auf seinem Triumphzug, die Passion Lenini. Guten Morgen, Lenin, riefen sie in Spandau.

Im Schatten stehen Preußen und Nazis

Wiederum ein halbes Jahr danach eröffnen sie die Ausstellung und laden alle ein. Es laufen kleine Filme: Eine Drohne war über den Forst geflogen und hat festgehalten, wie der Gründer der Sowjetunion wieder sein Haupt erhob; ein Amerikaner hat sich 1996 selbst gefilmt, wie er den Stein mit einer Schippe freilegte, als wäre es ein Weltwunder. Andreas Nachama, der Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, ist da und zitiert den Ost-Berliner Dichter Günter Kunert: „Die abgeschlagenen Köpfe/ Der Statuen beweisen nicht das Vergessen“.

Nämlich ganz im Gegenteil: Neben dem Leninkopf sind viele andere geborgene Berliner Denkmäler zu sehen. Die preußischen Helden der Siegesallee waren 1938 für den Bau der Stadt Germania von Albert Speer versetzt, im Krieg verwundet und von Denkmalschützern gegen den Befehl der Alliierten, sie endgültig zu vernichten, 1954 am Schloss Bellevue vergraben worden. 1978 durften sie wieder gehoben werden. Als ihr Zwischenlager von der Stadt verscherbelt wurde, kamen sie nach Spandau. Andere hatten in Kneipen und Kapellen überdauert.

Jetzt stehen sie wieder stramm in Reih und Glied mit ihren Einschüssen. Hieronymus von Schlick hat seinen Kopf zurück, der West-Berliner Großkritiker Friedrich Luft hatte ihn aufbewahrt, auf dem Balkon. Die Nazi-Jahre werden in der Ausstellung bloß von einem enttäuschend mickrigen Athleten aus den Arno-Breker-Ateliers vertreten und von einem seltsamen Germanenstein, der in einer SS-Siedlung in Zehlendorf geborgen wurde, ohne dass die Öffentlichkeit überhaupt davon Notiz nahm.

Die DDR ist fort, es lebe sie DDR

Lenin ist der Star, er stellt die Preußen und die Nazis in den Schatten, als Trophäe der Geschichte dieser Stadt. Das kommt davon. Der Kopf liegt jetzt für immer öffentlich auf seinem Sockel in Berlin, ein schlafender Zeuge der missglückten Musealisierung eines deutschen Nachkriegsstaates. 1991 sang die Punkband Feeling B, die Keimzelle von Rammstein: „Ich such die DDR/ Und keiner weiß, wo sie ist“. Sie war verschwunden und entsorgt, die Hinterbliebenen hatten genug zu tun im neuen Land mit ihrem neuen Leben. Dafür wurden staatlich finanzierte und auch so besetzte Aufarbeitungskomitees gegründet. Jürgen Habermas erklärte, was die DDR gewesen war. 2003 kam „Good Bye, Lenin!“ in die Kinos, darin flog ein demontierter Bronzelenin, wie er in der DDR an vielen Orten stand, über Berlin davon. So einen Film konnte nur jemand drehen, der die DDR vermisste, weil er sie nicht kannte, Wolfgang Becker aus dem Sauerland. Die Ostalgie kam aus dem Westen.

Mir war es egal, dass Lenin abgetragen wurde, er hätte aber auch stehen bleiben können, und es war mir gleichgültig, dass er bei mir im Wald lag. 40 Jahre, auf den Tag genau, bevor die Ausstellung „Enthüllt“ die Türen öffnet, war ich im Palast der Republik beim Pflichttermin zur Einweihung. Während ein Festredner die Diktatur des Proletariates feierte, betrachtete ich durch die Turmalinfenster eine partielle Sonnenfinsternis. So war die DDR, wie ihr Palast: Im einen Saal tagte die Volkskammer, im anderen Saal freute das Volk sich über Rockbands aus dem Westen.

Als der Bundestag beschloss, das angeblich nicht mehr sanierbare Gebäude abzureißen, fand ich das historisch aus der Sicht der Sieger der Geschichte durchaus schlüssig, wenn auch übertrieben. Lustig fand ich dann wieder die Zwischennutzung von Ostalgikern wie den Einstürzenden Neubauten und die Ausstellung der chinesischen Terrakotta-Armee.

In der Seddiner Heide sollen übrigens unter dem Sand auch Steine, Schutt und Stuck aus dem Berliner Stadtschloss lagern, das von Walter Ulbricht 1950 abgerissen worden war, um später den Palast der Republik zu bauen und nach ihm wieder das Stadtschloss. Wann wird der Palast wieder errichtet, vielleicht auf dem Tempelhofer Feld?

So ist das heute mit der DDR. Sie ist so gründlich aufgearbeitet und musealisiert, verteufelt und verklärt, dass alles mit allem zusammenhängt. Man weiß zwar nicht, warum Pegida eine sächsische Erfindung ist, der NSU in Thüringen gegründet wurde und der deutsche Osten sich vom deutschen Westen wieder abwendet. Aber der schwäbische Historiker Ulrich Mählert gibt als Leiter des Arbeitsbereichs Wissenschaft der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – was für ein Titel – weiter Bücher wie „Die DDR als Chance“ heraus. Die Stasi-Akten kommen ins Bundesarchiv. Und Lenin ruht in Frieden in Berlin, am Ende der Geschichte.

 

Quelle: WELT, 29.04.2016

 

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