„Lehren für die Zukunft“

26.09.2015   Südwest Presse – Ehinger Tagblatt

Die Ausstellung „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ war im British Museum in London ein Besuchermagnet. Jetzt liegt Neil MacGregors kluge Analyse als großartiges Geschichtsbuch vor.

Von Jürgen Kanold

Dieser Mann kann die Geschichte der ganzen Welt erklären – am Beispiel von 100 Objekten. Oder auch einfach nur Deutschland. Neil MacGregor, Direktor des British Museum, gilt als der Wundermann der universellen Museumsarbeit, er stellt nicht einfach Exponate aus, er erzählt mit ihnen Menschheitshistorie: so verständlich, so fesselnd wie kaum ein anderer.

Es war schon eine kleine Sensation, als Kulturstaatsministerin Monika Grütters den 69-jährigen Schotten als Gründungsintendanten des Berliner Humboldt-Forums vorstellte. MacGregor beginnt jetzt im Oktober damit, so etwas wie ein Haus der Weltkulturen im rekonstruierten Stadtschloss zu entwickeln und dort diverse Sammlungen Berliner Museen von Kunst aus Afrika, Asien, Ozeanien sowie Nord- und Südamerika zu vereinigen.

Das Stadtschloss der Preußen, im Zweiten Weltkrieg zerbombt, dann von der DDR-Regierung abgeräumt für den „Palast der Republik“, der dann auch wiederum nach einer Zeitenwende, 1989, weggerissen wurde – das Humboldt-Forum jedenfalls wäre für MacGregor natürlich auch ein idealer Ort, um deutsche Geschichte zu erzählen. Aber das tun in Berlin andere Institutionen wie das Deutsche Historische Museum an der Prachtstraße Unter den Linden, unweit der Großbaustelle des Stadtschlosses, das 2019 eröffnet werden soll.

Kunsthistoriker MacGregor, der unter vielem auch Deutsch in Oxford studierte, ist ein exzellenter Kenner unseres Landes. „Deutschland – Erinnerungen einer Nation“ hieß im vergangenen Jahr seine äußerst erfolgreiche Schau in London. Gerade die Außensicht eines Briten auf die komplizierte Geschichte und Psyche einer Nation, die sich über Jahrhunderte hat erst finden müssen, um dann im Hitler-Nationalsozialismus die halbe Welt mit Vernichtung zu überziehen, ist äußerst erhellend wie lehrreich. Wie klug und pointiert MacGregor die Seele der Deutschen erkundet, lässt sich jetzt in Ruhe und umfassend in einem großartigen, auch sehr aufwändig bebilderten Geschichtsbuch nachlesen, es trägt den selben Titel wie die Ausstellung im British Museum, basiert aber auch auf einer Radio-Serie der BBC: Volkshochschule auf allerhöchstem Niveau.

Der Brite bewundert die Erinnerungskultur: „Deutschlands Denkmale sind anders als die anderer Länder.“ Als Beispiel nennt er das Münchner Siegestor – vergleichbar dem Arc de Triomphe in Paris. Das reich geschmückte Siegestor wurde 1840 errichtet, „um den Heldenmut Bayerns in den Revolutions- und Befreiungskriegen zu feiern“. Die Südseite des Siegestores aber berichtet noch von einer ganz anderen Geschichte, wie MacGregor ausführt: Das Siegestor wurde im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, aber nicht rekonstruiert, im Gegenteil; am unteren Rand der nackten Steinfläche stehen die Worte „Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend“.

Ins Gloriose mischen sich Niederlage und Schuld – die moralische Botschaft: „Die Vergangenheit hält Lehren bereit.“ Und genau das bezeichne die Rolle, welche die Geschichte in Deutschland spiele: „Sie liefert nicht nur ein Bild der Vergangenheit, sondern führt entschieden und mahnend nach vorne, in die Zukunft.“ Das aber ist nicht nur eine These des Autors, entsprechend hat er auch sein Buch aufgebaut, er versucht die ambivalente Geschichte des über Jahrhunderte hinweg zersplitterten Deutschlands zu fassen, er versucht diese Nation zu verorten, geografisch, politisch, kulturell. Das gelingt ihm mit einer erstaunlichen Detailkenntnis, und britischer Humor tut der Sache auch gut, die Würste und das Bier gehören nicht minder zu seinem Psychogramm deutscher Befindlichkeit.

MacGregor befasst sich natürlich wieder mit Objekten: etwa dem Tor zum Konzentrationslager Buchenwald mit der zynischen Inschrift „Jedem das Seine“, das die Gefangenen vom Appellplatz aus lesen mussten. Nur ein paar Kilometer von der Klassiker-Stadt Weimar entfernt, dem Hort deutschen Geistes, führe dieses Objekt zur „vielleicht unbeantwortbaren Frage“: „Wieso haben die großen, humanisierenden Traditionen der deutschen Geschichte – Dürer, Lutherbibel, Bach, die Aufklärung, Goethes Faust, das Bauhaus und sehr, sehr viele mehr – nicht diesen totalen moralischen Zusammenbruch verhindern können, der zu millionenfachem Morden führte und in eine nationale Katastrophe?“ Das ist auch eine Frage an die Zukunft. Und der wendet sich MacGregor schließlich zu: „Mit Geschichte leben“ heißt sein letztes Kapitel. Was zwangsläufig zum Berliner Stadtschloss führt – MacGregor selbst steht für den vergangenheitsbewussten Zukunftsblick. Da ist der Brite, seiner These nach, modern deutsch und genau der richtige Mann fürs Humboldt-Forum: „Dieses Schloss will nicht das einer militaristischen preußischen Dynastie sein, sondern das eines neuen Deutschlands und seiner Beziehungen zur Welt, über Europa hinaus.“

 

Quelle: Südwest Presse – Ehinger Tagblatt, 26.09.2015

Ein Kommentar zu “„Lehren für die Zukunft“

  1. Liest man obigen Zeitungsartikel gewinnt man den Eindruck, auch im Humboldtforum wird Schuldkult betrieben werden — allerdings aus hochgelobter britischer Sicht und auf  „feine englische Art“. Doch schon die Römer wussten: Der Sieger schreibt die Geschichte!  Zu den vielen Lobeshymnen auf Herrn McGregor vor Antritt seiner Arbeit in Berlin fehlt dann nur noch seine Erhebung in den Adelsstand, die sicher schon beantragt wird. Also: Welcome, Sir Neil!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert