„Das Schloss und seine geheimen DDR-Pläne“

02.08.2016   Süddeutsche Zeitung

Unserem Autor fällt zufällig ein Gutachten in die Hände. Darin berechnet ein Architekt 1950, wie viel es kosten würde, das Berliner Schloss wiederaufzubauen. Doch warum hat die DDR diese Untersuchung überhaupt in Auftrag gegeben?

Von Alex Rühle

Wie das Leben so spielt. Man fährt nach Garching, um ein Klavier abzuholen und kommt zurück mit einem, nun ja, zumindest rätselhaften Dokument. Den ersten telefonischen Reaktionen in Berlin nach ist es sogar eine mittlere Sensation. „Nie gehört“, sagt der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser von der Gesellschaft Berliner Schloss e.V.: „Die DDR soll vor dem Abriss des Schlosses selbst ein Gutachten in Auftrag gegeben haben, wie teuer der Wiederaufbau wäre? Sind Sie sicher?“

Na ja, es liegt hier auf meinem Schreibtisch, Titel: Gutachten über den Wiederaufbau des Berliner Schlosses. Und auf Seite 3: „Die Deutsche Demokratische Republik, Ministerium für Aufbau, Allgemeines Bauwesen, Städtebau, erteilte am 12. Oktober 1950 dem Unterzeichneten den Auftrag zur Ausfertigung eines Gutachtens über die Kosten des Wiederaufbaus der Schlossruine.“ Zwei Tage später sagt Wilhelm von Boddien vom Förderverein Berliner Schloss e.V. am Telefon, er zittere am ganzen Körper, weil er es gar nicht glauben könne, dass es solch ein Gutachten doch noch gebe, „aber bitte, noch mal von Anfang: Wo haben Sie das her?“

Nun ja. Reporterglück. Hanning Lindner, ein freundlicher Norddeutscher, hat ein Klavier zu verschenken. Beim Abholen in seiner Wohnung in Garching zeigt er irgendwann auf ein Tischchen, auf dem ein kleines Konvolut liegt. DIN A4, orangener Pappeinband, darauf die fein getuschte Silhouette einer barocken Kuppel. „Ja, seltsam“, sagt Lindner. „Anscheinend hat die Regierung der DDR 1950 überlegt, das Schloss wiederaufzubauen.“ Und warum ist das am Rücken aufgetrennt? „Weil meine Tante es 1973 in ihrer Handtasche nach West-Berlin geschmuggelt hat und das lieber in zwei Portionen machen wollte. Das liegt seit Jahren rum, und ich weiß nicht, wohin damit. Sie sind doch Journalist.“

Acht Seiten wunderschöne Grundrisszeichnungen, die „Darstellungen der verschiedenen historischen Bauabschnitte“ zeigen: Raumübersicht erstes und zweites Stockwerk, ein Schnitt durch die Fassade, Ansicht der Fensterachsen. Hinter den Aufrissen folgen Fotografien aus Kunstbänden der Zwanzigerjahre, die das Schloss in all seiner Pracht zeigen, Eosanderhof, Schlütertreppe, Raumfluchten . . .

Zwischen 1948 und 1950 gab es zahlreiche Versuche, das Schloss zu retten

Zum Rätsel wird das Ganze durch den beigefügten Text, maschinengeschrieben auf 34 Seiten dünnstem, wässrigblauem Durchschlagpapier. Ein Architekt muss zwischen dem 12. Oktober und dem 13. November 1950, an dem er das Dokument unterzeichnet hat, durch die Schlossruine gelaufen sein und Inventur gemacht haben. Zunächst resümiert er Abschnitt für Abschnitt den baulichen Zustand: „Kuppel über dem Hauptportal: Gewölbe zu 80% nicht mehr vorhanden, innere Marmorverkleidung und Malerei 80%, Marmorfußboden 90% zerstört, Fenster und Türen fehlen, Marmortreppe unbeschädigt.“

Im zweiten Teil errechnet er dann die Kosten eines Wiederaufbaus. Er scheint die Methode Pi mal Daumen angewandt zu haben. Das Ganze ist so summarisch wie man es sich nur denken kann:

„28) 102 qm Stuckdecken auf dem Gewölbe der Räume im Erdgeschoss:

qm 150.- 15.300.-

29) 306 qm horizontale Stuckdecken in den 3 Obergeschossen herstellen:

qm 140.- 42.840.-“

Insgesamt, so das Resümee des Architekten, würde der Wiederaufbau 32 Millionen DM kosten (von 1948 bis 1964 trug auch die Mark der DDR offiziell die Bezeichnung „Deutsche Mark“).

Nun gab es zwischen 1948 und 1950 verschiedene Initiativen und Versuche, das Schloss zu retten. Es war ja erst in den letzten Kriegsmonaten beschädigt worden. Im Februar 1945 verursachten Brandbomben Feuerstürme, die nahezu alle Prunkräume im Nord- und Südflügel zerstörten. Außerdem erlitt die Fassade während der Kämpfe um Berlin schwere Schäden durch Artilleriebeschuss. Man hätte es aber durchaus retten können. Charlottenburg war stärker zerstört worden als das Schloss. Es gab denn auch verschiedene Initiativen und Appelle von Seiten der Bürger, Künstler, Historiker, das Schloss fürs Erste durch Überdachung zu sichern und später wieder aufzubauen.

Im Oktober 1948 analysierten Bausachverständige des Magistrats von Groß-Berlin den baulichen Zustand des Schlosses und kamen zu dem Fazit, dass der Wiederaufbau durchaus möglich sei. Noch im Juni 1950 plädierten Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung des Magistrats dafür, nichts zu überstürzen. Gerade am Großen Bruder Sowjetunion könne man doch sehen, wie man verantwortungsvoll mit künstlerisch wertvollen Baudenkmälern umgeht: „Die deutsche Delegation für Städtebau konnte sich insbesondere in Leningrad davon überzeugen, mit welch großem Einsatz dort die Wiederherstellung z. T. zerstörter ehemaliger Zarenschlösser im Gange ist.“

Alle Welt lief Sturm gegen Ulbrichts Plan

Walter Ulbricht aber erklärte auf dem 3. Parteitag der SED am 22. Juli 1950: „Das Zentrum unserer Hauptstadt, der Lustgarten und das Gebiet der jetzigen Schlossruine, müssen zu dem großen Demonstrationsplatz werden, auf dem der Kampfwille und Aufbauwille unseres Volkes Ausdruck finden können.“ Damit war der Abriss beschlossene Sache, das Schloss musste einem Aufmarschplatz weichen. Hunderte Kunsthistoriker, Architekten, Stadtplaner aus Berlin und aller Welt liefen danach zwar Sturm gegen Ulbrichts Plan, die Führung und DDR-Regierung aber wischten alle Proteste mit dem Hinweis vom Tisch, schuld an der Schleifung seien die Angloamerikaner, die das Schloss zerbombt hätten. Alle Befürworter sprechen von „unbeugsamem Starrsinn“, einer „unbegreiflichen Blindheit“ oder „völliger Verbohrtheit“, die ihnen bei Diskussionen mit Regierungsvertretern entgegenschlug.

Vom 7. September an wurde gesprengt. Wie kann es da sein, dass im Oktober vom Ministerium für Aufbau ein solches Gutachten in Auftrag gegeben wird? Es wäre nahezu absurd zu glauben, dass solch ein Auftrag hinter dem Rücken Ulbrichts vom Aufbauministerium auf eigene Faust erteilt wurde. Im Sommer und Herbst 1950 waren große innerparteiliche Säuberungsaktionen im Gange. Niemals hätte ein Ministerium in dieser Atmosphäre einen derart dreisten Alleingang gewagt.

Noch etwas ist seltsam: Die Erstellung des Gutachtens fällt in die Zeit der größten Sprengungsarbeiten. Das war nun kein diskretes Abtragen. Am 2. November schrieb der Kunsthistoriker Walter Henschel in einem Brief: „Gestern war ich privat in Berlin. Während ich in den Museen war, dröhnten die Sprengschüsse vom Schloss herüber. Dann sah ich den Schauplatz der Tragödie (. . .) Ich bin wahrhaftig an den Anblick von Ruinen gewöhnt, aber dieser Anblick hat mich fertig gemacht.“

Am 6. September wurden die 16 Grundsätze verabschiedet, am Tag danach begann der Abriss.

Der Gutachter muss mitten durch diese Zerstörungsorgie gelaufen sein: Am 19. Oktober wurde die Südostecke der Schlossfassade gesprengt, am 23. das Portal I., am 4. November der Schlüterhof vernichtet. Im Gutachten findet sich von alledem kein Wort, ja es klingt so, als sei das Gebäude seit Kriegsende nicht angetastet worden.

Gezeichnet hat der Architekt nur mit einem Kürzel, das entweder als Le oder Lo zu lesen ist (einzelne Lettern der Schreibmaschinenschrift verschwimmen immer wieder). Versteckt sich hinter dem Kürzel der Architekt Kurt Walter Leucht? Leucht war Anfang 1950 in besagtes „Ministerium für Aufbau“ berufen worden, wo er die Abteilung Städtebau aufbaute. Er war eine der zentralen Figuren in den ersten Jahren des Wiederaufbaus. Anfang 1950 nahm er an einer Reise in die Sowjetunion teil, auf der die ostdeutschen Architekten und Stadtplaner auf Kurs gebracht wurden: Nach ihrer Rückkehr verfassten Leucht und seine Kollegen „Die 16 Grundsätze des Städtebaus“, eine Art Masterplan für den Aufbau der DDR. Darin wird betont, dass im Zentrum der Stadt „die wichtigsten politischen, administrativen, kulturellen Stätten liegen. Auf den Plätzen im Zentrum finden politische Demonstrationen, Aufmärsche und Volksfeiern statt.“ Am 6. September wurden die 16 Grundsätze verabschiedet, am Tag danach begann der Abriss.

Das Gutachten findet keinerlei Erwähnung in der reichhaltigen Literatur zum Berliner Schloss. Selbst in Bernd Maethers mehr als 400-seitiger Monografie „Die Vernichtung des Berliner Stadtschlosses“ aus dem Jahr 2000, die auf mehr als 200 Seiten Schriftverkehr, Einreichungen, Petitionen faksimiliert, ist davon nichts zu lesen. Und auch im Bundesarchiv, Abteilung DDR, findet sich zumindest bei der ersten Suche einer Mitarbeiterin nichts darüber.

Dann plötzlich doch noch ein Hinweis: Auf der Homepage des Fördervereins Berliner Schloss steht in einem Unterkapitel: „Die Abrissarbeiten dauerten fast ein halbes Jahr. Seine Wiederaufbaukosten (. . . ) wurden in einem von der DDR-Regierung in Auftrag gegebenen Gutachten mit 32 Millionen Mark der DDR angegeben.“

Aufgeregter Anruf bei Wilhelm von Boddien, dem Vorsitzenden des Fördervereins. Wo er das denn herhabe? Boddien sagt, er habe mal eine Durchschrift eines solchen Gutachtens besessen, angefertigt im Auftrag der Regierung. Geschrieben von einem Herrn Le.? Unterzeichnet am 13. November 1950?“Nein, meines wurde im September vom Architektenbüro Thron & Partner erstellt.“ „Haben Sie das noch?“ „Nein, das hat jemand verschlampt. Ähm, dürfte ich Ihres wohl mal sehen?“

Mit dem Geld, das der Abriss und der Aufmarschplatz kostete, hätte man das Schloss sichern können

Zwei Tage später ein mindestens ebenso aufgeregter Rückruf aus Berlin: Es handelt sich tatsächlich um ein anderes Gutachten. Das seltsamerweise auf genau dieselbe Summe komme wie das von Thron. Boddien ist überzeugt, dass beide Gutachten nur angefertigt wurden, um der Regierung ein weiteres Argument für den Abriss an die Hand zu geben. 32 Millionen, wo soll das Geld herkommen, wir müssen abreißen. Ein Facharbeiter verdiente damals 120 Mark im Monat. Wahrscheinlich hätten die Ministerien beide Gutachten sofort in ihren Giftschränken verschwinden lassen. Boddien: „Aber Abriss, Trümmerbeseitigung und Platzgestaltung kosteten dann auch acht Millionen. Mit demselben Geld hätte man die Ruine sichern können, ein neues Dach bauen, Fenster und Beschussschäden provisorisch schließen können, um den Bau trocknen zu lassen und nach und nach zu restaurieren, so wie es in West-Berlin mit Charlottenburg geschah.“ Man hört sein Seufzen durch den Telefonhörer von Berlin bis München.

Ein letzter Anruf bei Herrn Lindner, bei dem das Dokument all die Jahre in der Wohnung lag. Er weiß nur wenig: Die ältere Schwester seiner Mutter lebte in Ostberlin. 1973 zog sie in den Westen. Sie war mit der Familie des Architekten bekannt. Angehörige dieser Familie baten die Tante dann, das Gutachten mitzunehmen. Wie der Architekt heißt? Warum die Familie wollte, dass das Dokument in den Westen kommt? All das hat die Tante mit ins Grab genommen. Aber immerhin gibt es jetzt für die Nachwelt diesen gut erhaltenen Durchschlag mit Originalzeichnungen.

 

Quelle: Süddeutsche Zeitung (online), 02.08.2016

 

 

25 Kommentare zu “„Das Schloss und seine geheimen DDR-Pläne“

  1. Der sächsische Spitzbart wollte auf Biegen und Brechen seinen Aufmarschplatz-gegen jegliche Widerstände… einfach eine Schande

  2. Meines Wissens nach gab es ebenso eine Kostenschätzung für den Abriss. Man wollte wahrscheinlich auch ökonomische Argumente für die Beseitigung des Schlosses haben.

  3. Sensationell! Aber der Leipziger Spitzbart hegte wohl einen Groll gegen Preußen. Deshalb musste das Schloss mit aller Macht weg.
    Gut, dass es nun wieder neu entsteht.

  4. Eine Schande was unter sowjetischer Herrschaft allgemein im Osten Deutschlands und im ehemaligen Preußen etc. alles abgerissen und vernichtet wurde. Da gingen Jahrhunderte deutscher Geschichte zu Grunde.

  5. Dieses Dokument ist wirklich sensationell. Ich hoffe, dass es für uns Historiker als Faksimile verfügbar gemacht werden kann. Gibt es Hintergründe zum Gutachter?

  6. ja die zonen-kommunisten … kultur und geschichtsvernichter …. was der krieg übrig gelassen hat dem haben diese ideologisch verblendeten dann den rest gegeben …. verschont haben sie nur was ihnen ideologisch in den kram paßte

  7. Ulbricht war der größte Kulturvernichter in Ostdeutschland. Unglaublich, was unter seiner Anordnung alles an wichtigen Bauten weichen musste.

  8. Na Vorsicht, liebe Kommentatoren! Im Westen war es nicht viel anders mit der Zerstörungswut. Wer im Schöneberger  Rathaus hat den Anhalter Bahnhof Stück-für-Stück zerstören lassen – war das W. Brandt?  Die Leute, die mit 1945 an die Macht kamen, in Ost wie West, wollten einen neuen Menschen schaffen und dazu die entsprechende Architektur (Glas, Stahl, Beton) und Kunst (abstrakt). Wie der Herr Gropius sagte: Wenn dies den Leuten nicht passt müssen sie gezwungen werden sie  (die neue Architektur) zu mögen.

  9. Diese Aussage ist absolut dummes Zeug. Es geht hier nicht um Preussens Gloria sondern um die willkürliche Vernichtung des bedeutendsten Profanbaus nördlich der Alpen. Allein der Schlüterhof und die Gigantentreppe hatten Welterbestatus. Ganz zu schweigen von den unzähligen Prunkräumen.

  10. Ja die ökonomischen Argumente gab es dann am Ende auch, zu Gunsten des Schlosses. Gesiegt hat – wie wir wissen – aber nicht die Vernunft und der Respekt vor dem kulturellen Erbe, sondern die rote Ideologie eines barbarischen Systems.

  11. Ulbricht war ein Tölpel, ohne kulturelle Bildung. Eine Schande für jede zivilisierte Gesellschaft, doch für den „Arbeiter und Bauernstaat“ grad genug.

  12. Unser Kommentar: „Ich meine mal gehört zu haben, dass Honecker langfristig auch den Wiederaufbau plante.“. Wenn das „stramm deutsch-national“ ist, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.

  13. Also bei 8 Mio. für Abriss und 32 Mio. für Wiederaufbau, wurden ja gerade ökonomische Gründe mit FÜR den Abriss angebracht. Ob das richtig ist, ist ne andere Frage. Was sie schrieben, ist aber falsch.

  14. Könnten Sie dazu eine Quelle oder Richtung von die Such hingehen sollte geben? Ich interessiere mich sehr für das Thema. Danke!

  15. Es wurden hier viele bittere Wörter gesprochen. Bitte, vergessen Sie dabei nicht wie viele Beispiele von oft (nicht immer) tolle preußischer Architektur von DDR doch gerettet wurden. Wären sie wirklich so tollwutig gewesen, hätten sie auch Brandenburger Tor, Berliner Dom (nicht nur die Denkmalkirche), alles auf dem Gendarmenmarkt plus viel viel mehr vernichten können. Es ist schade, dass so viel vernichtet wurde aber diese Pauschaliesierung – Kommunisten sind immer schuld und in West Berlin war allet prima – ist sehr unfair und vor allem gefährlich da es die Menschen stärkt die genau so tollwütig in ihre Hass von Ost Deutschland sind wie angeblich alle Ost-Berliner Kommunisten waren. Genauso wie die die zu glauben scheinen, dass die Zerstörung Berlins nicht durch die Nazi Diktatur und Hitler-treue Reichsbürger aber durch Rote Arme oder Allierte Luftangriffe verursacht wurde – sie verwechseln gerne Aktion mit Reaktion und werden zu selten bemahnt.

    Bitet entschuldigen Sie mein Deutsch und die Fehler. Man gibt sich Mühe aber es ist keine einfache Sprache:)

  16. Por favor, reconstruam as maravilhosas salas do castelo com sua decoração original! …E depois derrubem a arquitetura moderna e horrível do arquiteto Franco Stella e reconstruam a maravilhosa ala renascentista!

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